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Zwei Übergewichtige sitzen auf einer Bank

© Imago

Umstrittene Studie: Schützt Dicksein vor Demenz?

Wer ein paar Kilos mehr wiegt, hat ein geringeres Risiko zu erkranken - das legt eine umfassende Studie aus Großbritannien nahe. Die Aussage widerspricht früheren Untersuchungen.

Es ist ein dickes Ei, so kurz nach Ostern, das Wissenschaftler aus England der Öffentlichkeit präsentieren. Die darin enthaltene Überraschung wird von vielen mit Kopfschütteln aufgenommen werden: Erwachsene, die in ihrem mittleren Lebensalter ein paar Kilo mehr auf die Waage bringen, sind weniger gefährdet, einige Jahre später an einer Demenz zu erkranken. In der mittleren Lebensphase sehr schlank zu sein oder sogar Untergewicht zu haben, erhöht dagegen das Risiko. Das ist das Resultat einer Studie mit Daten von fast zwei Millionen Menschen, die zwischen 1987 und 2013 bei Allgemeinärzten behandelt wurden. Informationen zu ihrer Größe und ihrem Gewicht, aber auch zur weiteren Krankengeschichte flossen in den „Clinical Practice Research Datalink“ ein.

Mit sinkendem Gewicht stieg die Gefahr für Alzheimer

Im Schnitt waren die Teilnehmer zu Beginn 55 Jahre alt und hatten einen Body- Mass-Index (Gewicht in Kilogramm geteilt durch die Größe in Metern im Quadrat) von 26, was als leichtes Übergewicht eingestuft wird. Das gesundheitliche Schicksal der Teilnehmer wurde im Schnitt über neun Jahre, bei einigen bis 20 Jahre lang verfolgt. Demnach hatten Übergewichtige mit einem BMI bis zu 40 gegenüber Menschen mit einem als gesund geltenden BMI zwischen 20 und 25 ein um 29 Prozent geringeres Risiko, später an einer Demenz zu erkranken. Mit sinkendem Gewicht stieg die Gefahr für Alzheimer und andere demenzartige Erkrankungen sogar noch weiter.

Die Autoren haben sorgsam nachgerechnet, ob ihre Ergebnisse noch stimmen, wenn Risikofaktoren berücksichtigt werden wie Rauchen oder hoher Alkoholkonsum auf der einen Seite und mögliche Schutzfaktoren wie Medikamente gegen hohe Blutfettwerte und Bluthochdruck auf der anderen. Schließlich könnte es sein, dass schlanke Studienteilnehmer ihr Demenzrisiko erhöht haben, indem sie häufiger zur Zigarette griffen. Oder dass Übergewichtige häufiger Pillen bekamen, die nebenbei auch das Gehirn schützten. Doch das änderte das Ergebnis nur geringfügig.

"Die Studie steht im Gegensatz zu dem, was man bisher dachte"

„Unsere Daten stellen die Überzeugung infrage, dass Übergewicht im mittleren Lebensalter mit einem erhöhten Demenzrisiko verbunden ist“, schreibt das Team um Stuart Pocok von der London School of Hygiene and Tropical Medicine in der Fachzeitschrift „The Lancet Diabetes and Endocrinology“. Sie äußern das in aller Vorsicht, denn zahlreiche Studien stützen die gegenteilige Annahme. „Die aktuelle Studie steht im Gegensatz zu allem, was man bisher dachte“, sagt Hans Förstl von der Klinik für Psychiatrie am Münchner Klinikum rechts der Isar. Erst kürzlich war in einem Editorial des Lancet-Ablegers „The Lancet Neurology“ der Erkenntnisstand so zusammengefasst worden: „Die Reduktion von Risikofaktoren wie Übergewicht im mittleren Lebensalter (…) könnte die zukünftige Prävalenz von Demenz substanziell reduzieren.“

Gewicht und das Risiko für Demenz. Die Grafik zeigt die statistische Wahrscheinlichkeit bei Frauen, unterteilt nach verschiedenen BMI-Gruppen.
Gewicht und das Risiko für Demenz. Die Grafik zeigt die statistische Wahrscheinlichkeit bei Frauen, unterteilt nach verschiedenen BMI-Gruppen.

© Nawab Qizilbash/Lancet

Wie lassen sich diese Widersprüche erklären? Zunächst gibt es das grundsätzliche methodische Problem, dass in die Datenbank ausschließlich Menschen aufgenommen wurden, die im Lauf der Jahre mehrfach Rat beim Hausarzt gesucht hatten. In die neue Untersuchung wurde von ihnen nur die Minderheit derjenigen aufgenommen, deren Gewicht und Größe ermittelt wurden. Dafür mag es jeweils besondere Gründe gegeben haben. Möglicherweise haben die Mediziner korpulente Patienten routinemäßig gewogen, um sie zum Abspecken zu motivieren, während schlanke Patienten nur bei besonderen Fragestellungen gewogen wurden. Einige zum Beispiel, weil sie nach eigenen Angaben stark abgenommen hatten und sich schwach fühlten. Damit wären sie von vornherein „kränker“ gewesen.

Der BMI hat seine Schwächen

Es könnte aber auch grundsätzlich an der Zeit sein, die geltenden strikten BMI-Grenzen des „gesunden“ Gewichts zu überdenken, schon weil Menschen unterschiedlich viel Muskelmasse haben, meint Isabella Heuser, Direktorin der Klinik für Psychiatrie an der Berliner Charité. „Wir müssen unsere Hysterie in Sachen Übergewicht ablegen.“ Statt allein auf das Gewicht zu schauen, sei es zur Vorbeugung der großen Volkskrankheiten wichtig, Messwerte im Auge zu haben, die über den Stoffwechsel Auskunft geben, sagt Heuser. Für viele Erkrankungen gilt heute das Verhältnis zwischen Taillen- und Hüftumfang im Vergleich zum BMI als weit aussagekräftiger.

Die Autoren der Studie haben zudem nicht berücksichtigt, wie hoch die Blutdruck- und Blutfettwerte der Teilnehmer waren, sondern nur, ob sie zu deren Regulation Medikamente bekamen. Ebenso wenig gibt die Studie darüber Auskunft, wie stark sich die Teilnehmer körperlich bewegt haben. Zudem sei noch nicht viel gewonnen, wenn zwar Zusammenhänge zwischen Gewicht und Demenz hergestellt, aber keine Erklärungen dafür geliefert werden könnten. Was gebraucht werde, sei ein plausibles physiologisches Modell, sagt Heuser.

"Entdämonisierung des Übergewichts"

„Die Studie fügt sich ein wenig in das derzeitige Bild der Entdämonisierung des Übergewichts“, sagt auch Horst Bickel von der Klinik für Psychiatrie am Münchner Klinikum rechts der Isar. Sie dämpfe den Optimismus derjenigen, die glauben, man könne der Demenz vorbeugen, indem man schlank bleibt – aber beruhige auch diejenigen, die fürchten, Demenzen würden wegen des zunehmenden Übergewichts der Bevölkerung unweigerlich zunehmen.

Was sie keinesfalls dämpft, ist das Bedürfnis nach weiterer Forschung, schon wegen der Widersprüche zu anderen Studien. In einem Kommentar in der gleichen Ausgabe der Zeitschrift gibt das auch die schwedische Neurologin Deborah Gustafson zu bedenken. Sie mahnt, die neue Untersuchung mit Vorsicht zu interpretieren. „Sie ist nicht das letzte Wort zu diesem umstrittenen Thema.“

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