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© dpa-Zentralbild

Schweinegrippe: Das Impfdilemma

25 Millionen Menschen sollen in Deutschland gegen die Schweingrippe immunisiert werden. Aber wie sicher ist der Wirkstoff?

Selten hat der Tod eines einzigen unbekannten Menschen so große Auswirkungen gehabt. Als der 18-jährige Rekrut David Lewis am 4. Februar 1976 zusammenbrach und wenige Stunden später im Lazarett starb, löste das eine regelrechte Panik aus. Laboruntersuchungen ergaben, dass er an einer Grippe gestorben war – und nicht an irgendeiner. Der Erreger sah dem der Spanischen Grippe erschreckend ähnlich. 1918 war dieses Virus um die Welt gegangen und hatte Schätzungen zufolge 20 bis 100 Millionen Menschen getötet.

Obwohl Lewis der einzige Todesfall blieb, verkündete der amerikanische Präsident Gerald Ford am 24. März, „jeden Mann, jede Frau und jedes Kind in den Vereinigten Staaten impfen zu lassen“. Bis Mitte Dezember erhielten 40 Millionen Amerikaner eine Immunisierung, dann wurde die Aktion abgebrochen. Der Grund: Hunderte waren an der entzündlichen Nervenkrankheit Guillain-Barré-Syndrom erkrankt, die mit Lähmungserscheinungen einhergeht.

Manche befürchten jetzt, dass sich die Geschichte wiederholt und der Weltgesundheitsorganisation WHO im Kampf gegen die Schweinegrippe ein ähnliches Debakel bevorsteht. Der Pharmakritiker Wolfgang Becker-Brüser spricht gar von einem „Großversuch an der deutschen Bevölkerung“.

Dabei ist bis heute nicht ganz klar, ob das Guillain-Barré-Syndrom wirklich durch die Impfung ausgelöst wurde. Frank von Sonnenburg, Professor an der Abteilung für Infektiologie der Ludwig-Maximilians-Universität in München, sieht allerdings einen klaren Zusammenhang. „Normalerweise tritt das Syndrom mit einer Häufigkeit von eins zu einer Million auf. 1976 erkrankten in den USA zehnmal so viele. Das scheint schon am Impfstoff gelegen zu haben.“ Einige Wissenschaftler glauben, der Impfstoff sei damals mit Bakterien verunreinigt gewesen. Marie-Paul Kieny, Impfexpertin der WHO, rechnet deswegen auch nicht damit, dass es bei der bevorstehenden weltweiten Immunisierung solche Nebenwirkungen geben wird. „Natürlich kann man das aber erst dann mit letzter Sicherheit sagen, wenn eine riesige Zahl von Menschen geimpft worden ist“, sagt sie.

Und das ist das Dilemma für Politiker und Ärzte. Einerseits befürchten sie, dass im Winter eine zweite, größere Grippewelle auf uns zurollt, die noch dazu einen gefährlicheren Erreger mit sich bringen könnte. Sie sehen sich deswegen in einem Wettrennen: Wer wird zuerst da sein, die Pandemie im Winter oder der Impfstoff? Andererseits könnten bei der Impfung von Millionen auch äußerst seltene Nebenwirkungen eine große Zahl von Menschen betreffen – und die lassen sich nur durch große, zeitraubende Studien mit vielen Probanden ausschließen.

„Eine Zulassung zieht sich in der Regel über ein Jahr hin“, sagt Johannes Löwer. Dass überhaupt die Chance besteht, schon zur Wintersaison eine Impfung bereitzustellen ist einer Erfindung mit Blick auf die Vogelgrippe zu verdanken, den Musterimpfstoffen. Das sind Impfstoffe für ein bestimmtes Grippevirus, die jedoch schnell für andere Grippestämme abgewandelt werden können. Zurzeit sind in Europa vier solcher Musterimpfstoffe zugelassen: Focetria der Firma Novartis, Celvapan der Firma Baxter sowie Daronrix und Pandemrix der Firma Glaxo-Smith-Kline.

Alle vier sind zwar gegen das Vogelgrippevirus H5N1 gerichtet und dafür klinisch getestet worden. Um gegen die Schweinegrippe eingesetzt werden zu können, müssen lediglich die abgetöteten H5N1-Viren durch Schweinegrippeviren ersetzt werden. Die restlichen Bestandteile bleiben gleich. „Die Impfstoffe sind also schon ausführlich getestet worden, nur eben mit einem anderen Grippestamm“, sagt Löwer. Daher sei deutlich weniger Zeit nötig für die Zulassung. Außerdem betreibe man einen sehr intensiven Informationsaustausch mit den Pharmaunternehmen. „Die Impfstoffe könnten deswegen bereits zwei bis vier Wochen nach dem offiziellen Antrag der Firmen zugelassen sein.“ Dann kann mit der Immunisierung begonnen werden.

Mit welchen Nebenwirkungen dabei häufig zu rechnen ist, geht aus den öffentlichen Beurteilungsberichten der vier Impfstoffe bei der europäischen Arzneimittelagentur EMEA hervor: Schmerzen und Rötung an der Injektionsstelle, Kopfschmerzen, Schwitzen, Gelenkschmerzen, Muskelschmerzen. Diese Nebenwirkungen könnten bei jedem zehnten Geimpften auftauchen. Das seien ganz normale Reaktionen des Immunsystems auf den simulierten Angriff durch Krankheitserreger, sagt Stefan Kaufmann, der das Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin leitet. Diese Nebenwirkungen können bei jeder Impfung auftreten, sie sind häufig und harmlos.

Weitaus größere Sorgen bereiten den Experten die seltenen Nebenwirkungen. Denn bei Millionen Geimpfter könnten auch Beschwerden auftreten, die in den klinischen Studien gar nicht auftauchten. „Es gibt eine Faustregel, die sagt: Wenn eine Nebenwirkung bei jedem Tausendsten auftritt, dann taucht sie bei einer Studie mit 3000 Menschen mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent auf“, sagt Löwer. „Wenn nur einer von 10 000 Menschen eine bestimmte Nebenwirkung erleidet, dann muss man schon 30 000 Menschen vorher testen, um die Nebenwirkung mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu entdecken.“ Die neuen Impfstoffe wurden allerdings an erheblich weniger Patienten getestet. In den klinischen Studien zu Pandemrix erhielten insgesamt 4002 Personen die nötigen zwei Impfdosen.

Nebenwirkungen, die seltener als bei jedem Tausendsten auftreten, dürften damit kaum erkennbar sein. Nach der derzeitigen Planung sollen aber allein in Deutschland 25 Millionen Menschen immunisiert werden. Eine Nebenwirkung die bei jedem Tausendsten auftritt würde also etwa 25 000 Menschen betreffen.

Außerdem wurden die Impfstoffe mit dem Erreger H5N1 getestet. Für die Impfstoffe gegen die Schweinegrippe sind nun weitere Studien geplant. Mehr Probanden werden aber auch jetzt nicht eingesetzt. Von Sonnenburg wird beispielsweise in den nächsten Tagen beginnen, den Impfstoff von Novartis zu testen. 1200 Personen sollen dazu deutschlandweit rekrutiert werden. Nach 43 Tagen könnte dann ein erstes Ergebnis vorliegen. Aber auch von Sonnenburg sagt: „Die häufigen Nebenwirkungen sieht man, die sehr seltenen nicht.“

Hinzu kommt, dass die Schweinegrippe-Impfstoffe eine neue Methode benutzen, um das Immunsystem „scharf zu machen“. Bisher wurde dafür meist eine Substanz namens Aluminiumhydroxid eingesetzt. Die Musterimpfstoffe benutzen eine neue Technik, die das Immunsystem stärker aktivieren soll. Der Vorteil: Es werden weniger Grippeviren pro Dosis Impfstoff benötigt. So kann in kürzerer Zeit mehr Impfstoff hergestellt werden. Außerdem verbreitert sich die Antwort auf die Krankheitserreger, sodass auch abgewandelte Formen der Erreger noch vom Immunsystem erkannt werden. Zumindest theoretisch könnte das aber auch die Gefahr erhöhen, dass Immunzellen körpereigene Stoffe erkennen und sich gegen den eigenen Körper wenden. „Das ist praktisch noch nicht nachgewiesen worden, aber grundsätzlich möglich“, sagt Löwer. Und der Virologe Alexander Kekulé von der Universität Halle gibt zu bedenken: „Mit diesen Impfstoffen hat man einfach weniger Erfahrung als mit den alten.“

„Wir werden die Nebenwirkungen deswegen sehr intensiv beobachten“, betont Löwer. Es stelle sich dann aber ein anderes Problem. „Wenn wir viele Menschen impfen, dann werden manche Leute rein zufällig bestimmte Krankheiten bekommen, ohne dass es etwas mit der Impfung zu tun hat.“ Man müsse daher sehr genau hinsehen, wie viele Fälle einer bestimmten Krankheit normalerweise zu erwarten seien, um der Impfung nicht eine Nebenwirkung unterzuschieben, die in Wirklichkeit nur zufällig bei jemandem auftrat, der sich auch hat impfen lassen.

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