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Grenzen ausloten. Nach der aristotelischen Tradition muss der Mensch auswählen, welchen Dingen und Fragen er seine begrenzte Zeit widmet. Dem Fresko „Schule des Aristoteles“ von G. A. Spangenberg begegnen Studierende an der Universität Halle-Wittenberg.

© akg-images / Schuetze / Rodemann

Serie "Identitäten" - siebte Folge: Der inneren Stimme folgen

Wir sind sterblich, also sind unsere Möglichkeiten begrenzt: Seit der Antike streiten Denker, was das für unsere Identität bedeutet. Wer eigene Maßstäbe und Talente erkennt, hat viel erreicht, sagt unsere Autorin Gyburg Radke-Uhlmann im siebten Teil der Serie.

Es ist ein attraktiver Gedanke zu meinen, jedem Menschen stünde eine Unendlichkeit an Möglichkeiten offen. Das, was wir sind, erscheint dann als etwas, das nahezu unbegrenzt bestimmt und verändert werden kann. Was wir uns mit der Zustimmung zu dieser Idee jedoch einhandeln, lehrt ein Blick in die Geschichte. Sie bildet seit der Renaissance die Basis vieler Theorien über den Menschen und seine Identität. Es war der Universalgelehrte Giovanni Pico della Mirandola, der sie in seiner Rede „Über die Würde des Menschen“ aus dem Jahr 1496 mit großer Resonanz propagiert hat.

Pico beschreibt den Menschen dort als dasjenige Wesen, das im Unterschied zu allen Tieren durch seine Unbestimmtheit charakterisiert ist. Weil der Mensch keine bestimmten Fähigkeiten besitze wie der Leopard das schnelle Laufen, die Biene das fleißige Sammeln des Nektars, ist er zu allem in der Lage. Er findet in seiner Natur keine Begrenzung. Ihm stehe alles, eine Unendlichkeit an Möglichkeiten, offen. So sei er sich selbst sein eigenes Prinzip. Alles, was er tut und jemals getan hat, eigne er sich an und sauge es als Teil seiner individuellen Identität auf.

Diese Auffassung vom Menschen spiegelt unmittelbar ein Selbstbild der Renaissance wider, das bis heute verbreitet ist. Sie erscheint als eine Zeit des klaren Denkens und als Zeit eines neuen Selbstbewusstseins des Menschen, der sich seiner Fähigkeiten zum ersten Mal reflexiv bewusst wird. Die Konsequenz aus der von Pico propagierten Unbestimmtheit aber ist tatsächlich das Gegenteil von rationaler Klarheit. Mit ihr verschwindet die Möglichkeit, überhaupt irgendwie rational über das, was wir sind, zu sprechen. Denn um etwas rational denken zu können, bedarf es der Bestimmtheit, also einer Unterscheidung und Festlegung.

Auch für unsere Suche nach wissenschaftlichen Antworten auf die Fragen nach dem, was uns als Menschen und Individuen ausmacht, hat diese Vorstellung Folgen. Denn die Wissenschaften, von denen in allem anderen klare und belastbare Antworten erwartet werden, scheinen hier keine Kompetenzen zu haben: die Naturwissenschaften sowie alle anderen empirischen Wissenschaften. Denn sie haben das Zählen, Wiegen und Messen zu ihren Grundmethoden erhoben.

Nun ist Messen zweifellos eine feine Sache. Wenn man etwas messen kann, weiß man etwas von diesem Gegenstand, das auch wirklich stimmt. Messen aber ist eben ein rationales Verfahren, dem sich die Unendlichkeit unserer Identität zu entziehen scheint, ja, dem wir unsere Identität gar nicht unterwerfen wollen.

Ob Friedrich Hölderlin, der Sprachanalytiker Ernst Tugendthat oder der Soziologe Niklas Luhmann, der handelnde Individuen als Elemente seiner Theorie ganz ausschließt, weil diese nicht wissenschaftlich erfassbar sind: Theorien, die dieses Unbehagen am Messen unserer Identität ausformuliert haben, sind Legion. In den letzten Jahren hat sich nun in den sogenannten Thing studies die Rede eingebürgert, dass nicht nur die menschliche Identität, sondern überhaupt die Dinge sich dagegen sträuben, gemessen, also rational erfasst zu werden. Das ist freilich metaphorisch formuliert und heißt nichts anderes, als dass jedes Ding immer unendlich viel mehr ist als nur Träger von Daten, die man von ihm abfragen kann. Ein Stück Land ist mehr als die Summe von Dreiecken, mithilfe derer seine Größe berechnet wird, ein schönes menschliches Gesicht mehr als die Proportionsdaten, die sich an ihm ablesen lassen.

Sind die Geisteswissenschaften also irrational? Lesen Sie weiter auf Seite 2.

So bleibt die Aussicht, Literatur, Kunst und Geisteswissenschaften könnten sich jenseits rationaler Messtätigkeiten diesem Unerreichbaren annähern. Sind die Geisteswissenschaften also, weil sie nicht messen, irrational? Wohl kaum. Der Gegensatz, mit dem wir zwischen Messbarem und Nicht-Messbarem in unserer Welt unterscheiden, macht ganz unnötig zwischen Geistes- und Naturwissenschaften eine Kluft auf, die sich nicht auftun und uns daran hindern müsste, die Vielfalt und Differenziertheit, aber auch Disparatheit der Welt zu verstehen zu versuchen. Denn viel spricht dafür, dass er einfach falsch konstruiert ist.

Bei genauem Hinsehen aber ist nicht nur die wissenschaftliche Zugänglichkeit zu unserer Identität ein Problem, sondern auch die Plausibilität dieser Überlegungen wird fraglich. Es ist ja keineswegs sofort überzeugend zu meinen, alles, was ein Mensch tut, sei Ausdruck seiner unverwechselbaren Identität: jeder Handgriff, jede Gewohnheit, die er mit Hunderttausenden teilt, wie das Zähneputzen und die Ungeduld beim Warten auf einen verspäteten ICE. Dies provoziert in doppelter Hinsicht die Frage, ob die Zustimmung zu diesem angenehmen Gedanken von der absoluten Unbestimmtheit des Menschen wirklich tragfähig und dazu in der Lage ist, etwas über uns auszusagen, und ob uns Picos Inszenierung eines Geniestreichs, der die dunklen und viel zu schwierigen Gedanken des Mittelalters leicht ersetzen kann, überzeugt.

Dafür lohnt ein zweiter Blick in die Geschichte und auf einen Gedanken, der von Aristoteles stammt und den Pico della Mirandola mit einem gewaltsamen Federstrich zu einer einfachen und selbstbewussten Intuition zusammengestrichen hatte. Weil in der Antike Wissenschaftstheorie immer vom Menschen her gedacht wird, ist die Erwartung berechtigt, dass auch unsere doppelte Fragestellung hier eine Antwort finden könnte.

Der Mensch wird in der aristotelischen Tradition als vernunftbegabtes sterbliches Lebewesen definiert. Als sterblich wird er nicht nur bestimmt, weil sein Leben zu einem bestimmten Zeitpunkt endet, sondern weil er in seinem Leben wesentlich von seiner Begrenztheit bestimmt ist. Das, was jeder einzelne von uns sein und tun kann, hat Grenzen. Wir müssen auswählen, welchen Dingen und Fragen wir uns und unsere Zeit widmen. Man kann nicht gleichzeitig ein hervorragender Physiker und ein exzellenter Schreiner werden, nicht zugleich engagierter Krankenpfleger und Konzertcellist. Und wir brauchen Hilfe von anderen, wir kommen nur dann weit, wenn wir mit anderen gemeinsam und auf dem aufbauend, was andere vor uns schon geleistet haben, weiterdenken und weiterhandeln.

Was gegen Picos Unbestimmtheitsidee spricht, lesen Sie auf Seite 3.

Auch die Rede von der Vernunftbegabung klingt restriktiv, aber sie hat mit kaltem Rationalismus nichts zu tun. Sie meint, dass das Prinzip all dessen, zu dem wir als Menschen begabt sind, in der Fähigkeit liegt, differenzierend zu denken und sich darüber auch Rechenschaft abzugeben. Diese Reflexionsfähigkeit ist eine kreative Potenz. Sie kann von einzelnen Individuen in so vielfältiger Weise entfaltet werden, die einzelnen Begabungen können so unterschiedlich nutzbar gemacht und vollendet werden, dass wir intuitiv Menschsein als etwas Unergründliches und Unendliches erfahren. Ob als Klavierspieler, als Linguist oder Mathematiker: Immer nutzt ein Mensch eine einzelne oder eine bestimmte Summe aus den Möglichkeiten, die er als Mensch hat. Gegen Picos Unbestimmtheitsidee tritt diese Tradition also für bestimmte und erkennbare Prinzipien ein, die eine Vielzahl an Verwirklichungen möglich machen.

Kann man diese erst in der Gemeinschaft und auf den Schultern einer langen Tradition voll entfaltbaren Potenzen eines Menschen nun durch Messen ergründen? Oder müssen wir auch hier auf die Ahnung von etwas zurückgreifen, das niemals objektiv bestimmt werden kann? Können wir auch hier nur auf die Formen und Bilder der Kunst und Literatur verfallen, um das unentrinnbare Ignorabimus zu vermeiden?

Vielleicht dann nicht, wenn wir im Sinne der skizzierten antiken Anthropologie unseren Zielgegenstand nicht überfordern. Wenn wir unsere Identität da suchen, wo sie auch zu finden ist: nicht in einer Unendlichkeit von Verhaltensweisen, sondern in den leitenden Maßstäben unseres Handelns und in den prägenden Begabungen, die wir entfalten: in der Entscheidung für das Kunststudium und gegen die Verwaltungshochschule, in der sich wiederholenden Entscheidung, in der U-Bahn nicht wegzuschauen, wenn ein Schwächerer attackiert wird, oder auch in der Vorliebe für einen guten Wein mit reichen Geschmacksnuancen vor jedem süßen Tetrapackwein.

Prinzipien des Handelns lassen sich nun selbst nicht messen. Sie sind ja keine experimentell reproduzierbaren Fakten. Sie lassen sich aber denkend verstehen. Messen lässt sich wiederum das Einzelne, in dem diese Prinzipien jeweils umgesetzt werden und wie sie analog immer wieder anders zu etwas Wirklichem werden, zu wirklichen Ereignissen, wirklichen Gedankenpfaden, die immer wieder und immer weiter, immer schneller durchwandert werden und sich eben deshalb auch beispielsweise als Spuren im Gehirn messend nachweisen lassen.

Das messbare Einzelne schöpft unsere Identität daher tatsächlich nicht aus. Die Identität wird deshalb aber nicht zu einer wolkenhaften Aura des Unergründlichen. Sie ist etwas Bestimmtes und hat einen verstehbaren Zusammenhang mit diesen einzelnen Handlungen und Daten. Nichts kann das schöner vor Augen führen als die Literatur. Sie zeigt Menschen, die so handeln, weil sie so sind, wie sie sind. Um diesen Zusammenhang können sich Natur- und Geisteswissenschaften gemeinsam bemühen: eben das Einzelne messend und dessen Prinzipien reflexiv unterscheidend.

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