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Demo für Griechenland

© Kay Nietfeld, dpa

Mathematik: Spiel um die Zukunft

Mithilfe der Spieltheorie kann man das Dilemma der Griechenland-Krise erklären und Auswege finden. Bis heute gibt es nur Verlierer. Eine Analyse.

Im Zusammenhang mit der Griechenland-Krise ist immer wieder von der Spieltheorie die Rede. Insbesondere Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis wurde als Experte auf diesem Gebiet genannt und mitunter als eine Art Magier beschrieben, der andere wider eigenes Wollen in eine bestimmte Richtung lenkt. Das ist natürlich Unsinn. Nichts an der Spieltheorie ist Zauberei. Sie ist jedoch hervorragend geeignet, das Dilemma in Griechenland zu erklären und darüber hinaus Auswege aus der verfahrenen Situation zu finden.

Grundsätzlich liefert die Spieltheorie Erklärungen und Prognosen bei strategischen Entscheidungen. Eine solche liegt vor, wenn das Ergebnis der Handlungen nicht nur von der eigenen Entscheidung, sondern auch von der des Gegenspielers abhängt. Die Lösung eines in diesem Sinne strategischen Spiels heißt „Nash-Gleichgewicht“. Der Namensgeber für das Lösungskonzept ist der US-Mathematiker John Nash, der zusammen mit Reinhard Selten und John Harsanyi im Jahr 1994 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft erhalten hatte. Sein Leben wurde eindrucksvoll im Buch und Film „A Beautiful Mind“ erzählt. Im Mai dieses Jahres starb er 86-jährig bei einem Verkehrsunfall.

Bei Griechenland ist das „Spiel“ – das ist der Fachbegriff, der nicht darüber hinwegtäuschen soll, dass es sich um eine sehr ernste Angelegenheit handelt – relativ einfach. Es existieren genau zwei Spieler, die Regierung Griechenlands und die Euro-Gruppe. Jeder hat zwei Möglichkeiten: Griechenland kann zur Sparpolitik „ja“ oder „nein“ sagen. Die „ja“-Entscheidung wird mit A bezeichnet, die „nein“-Entscheidung mit B. Die Euro-Gruppe kann zum dritten Hilfsprogramm für Griechenland „ja“ oder „nein“ sagen. Die „ja“-Entscheidung wird mit C bezeichnet, die „nein“-Entscheidung mit D.

Beide Seiten sagen "Nein"

So ergeben sich vier mögliche Strategiekombinationen: AC, AD, BC und BD. Beide Spieler bewerten diese aus ihrer subjektiven Sicht, wobei das beste Szenario mit „1“ und das schlechteste mit „4“ bezeichnet werden. Für Griechenland ergibt sich folgende Präferenzordnung: Das beste Ergebnis ist, wenn die Euro-Gruppe Hilfe zusagt, also C wählt. Damit ist C besser als D. Für die Auswahl der eigenen Strategie gilt: „nein“ zur Sparpolitik ist besser als „ja“, das heißt B ist besser als A. Damit ergibt sich die Rangordnung: (1) BC, (2) AC, (3) BD, (4) AD. Analog wird die Rangordnung der Euro-Gruppe abgeleitet. Das beste Ergebnis ist, wenn Griechenland „ja“ zur Sparpolitik sagt. Für die Auswahl der eigenen Strategie gilt: „nein“ zum Hilfsprogramm ist besser als „ja“. So ergibt sich die Rangordnung: (1) DA, (2) CA, (3) DB, (4) CB.

Die Frage, welche Strategien die Spieler wählen, beantwortet das „Nash-Gleichgewicht“. Es besagt: Kein Spieler kann durch ein einseitiges Abweichen seine Position verbessern, wenn der Gegenspieler an seiner Strategie festhält. Im konkreten Fall erfüllt nur das Feld DB (in der Grafik dunkler gefärbt und mit * markiert) diese Bedingung. Warum? Es ist leicht zu erkennen, dass die Euro-Gruppe nicht von D auf C wechseln wird, weil man sich nicht von Präferenz 3 auf 4 verschlechtern will. Analog kann für Griechenland argumentiert werden. Ein Wechsel von B auf A kommt nicht infrage, weil man sich auch hier nicht von Präferenz 3 auf 4 verschlechtern will. Damit ist DB die einzige stabile Nash-Lösung. Die Euro-Gruppe sagt zum Hilfsprogramm „nein“ und Griechenland sagt zur Sparpolitik „nein“.

Das Gefangenen-Dilemma widerlegt klassische Ökonomen

Das ist exakt die Situation, die wir seit der Tsipras-Wahl im Januar 2015 beobachten. Das Referendum vom Juli hatte diese Strategie bestätigt. Im Sommer geriet Griechenland an den Rand der Zahlungsunfähigkeit. Deshalb sah sich Tsipras im August gezwungen, einen Vertrag mit neuen Sparauflagen zu unterschreiben. Dies war nur der erste Schritt, die Umsetzung in die Tat ist der nicht weniger wichtige zweite Schritt. Letzteres stieß auf den erwarteten Widerstand der griechischen Bevölkerung. Um sein Gesicht zu wahren, trat Tsipras am 20. August zurück. In den Wochen vor der Neuwahl am 20. September dominierte der Wahlkampf das Geschehen. Die aktuelle Situation nach der von Tsipras gewonnenen September-Wahl ist identisch mit der Situation nach der von Tsipras gewonnen Januar-Wahl; es hat sich nicht wirklich etwas verändert. Die Präferenzordnungen beider Spieler sind nach wie vor gültig. Auch heute ist die Lösung des Spiels die Strategiekombination DB.

Die eben abgeleitete Lösung heißt „Gefangenen-Dilemma“ und hat eine unerwünschte Eigenschaft. Folgende Geschichte wird dazu erzählt: Wenn in einer Rechtsordnung mit Kronzeugenregelung zwei einer Straftat verdächtigte Ganoven vor der Wahl stehen, die Tat zu gestehen oder die Tat zu leugnen, werden sie immer gestehen. Warum? Weil sie sich dadurch die Vorteile eines Kronzeugen sichern können. Da aber beide Spieler so denken, werden beide gestehen. Damit gibt es keinen Kronzeugen mehr. Beide Spieler werden verurteilt, und zwar zur möglichen Höchststrafe. Das ist das Dilemma der Gefangenen. Allgemeiner ausgedrückt: Die aus individueller Sicht optimalen Entscheidungen führen oft dazu, dass beide Spieler zu echten Verlierern werden. Das Gefangenen-Dilemma widerlegt klassische und neoklassische Ökonomen, die sagen, wenn alle Marktteilnehmer optimale Entscheidungen treffen, dann muss das zwangsläufig zu einem kollektiven Optimum führen. Das ist eine Irrlehre.

Ohne Strategiewechsel geht gar nichts

Anhand der Konflikt-Matrix kann das Dilemma einfach demonstriert werden. Wir vergleichen dazu die Lösung DB mit der Strategiekombination CA. In CA sind beide Spieler in einer besseren Lage (jeweils Präferenz 2) als in DB (3/3). Die Betonung liegt auf „beide“. Dennoch macht in DB kein Spieler einen Schritt in Richtung CA. Die Euro-Gruppe wechselt nicht von D auf C; Griechenland wechselt nicht von B auf A. Warum bewegt sich keiner? Weil allein DB die Bedingungen des Nash-Gleichgewichtes erfüllt. Der falsch verstandene Optimierungszwang verhindert die Verbesserung der kollektiven Lage.

Genauso verhält es sich in der Griechenland-Frage. Stünden beide Spieler bei AC, würde Griechenland von A zu B wechseln und die Euro-Gruppe würde von C zu D wechseln. Beide Seiten können damit ihre Positionen von 2 auf 1 verbessern. Folglich ist AC kein Nash-Gleichgewicht, also keine Spiellösung. Ein subjektiver Optimierungszwang stürzt die Spieler in ein kollektives Desaster.

Welche Möglichkeiten gibt es, das Dilemma zu verlassen? Beide Spieler müssen einsehen, dass erstens ohne Strategiewechsel gar nichts geht und zweitens beide Wechselschritte gegen individuelle Optimierungsüberlegungen vorgenommen werden müssen. Ohne Druck und Drohung wird kein Spieler über seinen egoistischen Schatten zu springen bereit sein. Auch in der Griechenland-Krise müssen glaubwürdige Drohungen eingesetzt werden.

Ein dritter Weg

Für die Tsipras-Regierung lautet die Drohung: Ohne zügiges Umsetzen der akzeptierten Sparauflagen wird die Euro-Gruppe die Auszahlung der Hilfen blockieren. Da die Regierung nicht wieder an den Rand der Zahlungsunfähigkeit kommen will, hat diese glaubwürdige Drohung das Potenzial zum Strategiewechsel. Für die Euro-Gruppe lautet die Drohung: Ohne Schuldenschnitt wird der Internationale Währungsfonds die Mitwirkung am Hilfsprogramm für Griechenland aufkündigen. Auch dies ist glaubwürdig und hat das Potenzial für einen Strategiewechsel. Bis heute haben wir allerdings bei keinem der Spieler Aktionen beobachtet, die als Ansatz für einen Strategiewechsel interpretiert werden können.

Auch ohne radikalen Strategiewechsel der Spieler von „nein“ auf „ja“ gibt es eine Möglichkeit, die Krise zu überwinden. Unser Vorschlag basiert auf einer spieltheoretischen Analyse der Appeasement-Politik durch den US-Ökonomen Jack Hirshleifer, in der er eine „dritte“ Strategie einführt. Damit wird aus der 2x2-Konflikt-Matrix eine 3x2-Matrix. Das ist ein neues Spiel mit neuen Lösungen. Überraschenderweise führt im neuen Spiel das Nash-Gleichgewicht nicht in ein Dilemma. Das kann ausgenutzt werden.

Neues Spiel, neue Ordnungen

In der Tat gab es im Sommer in der Euro-Gruppe für kurze Zeit die Diskussion einer „dritten“ Strategie. Der Vorschlag von Finanzminister Wolfgang Schäuble lautete „Grexit auf Zeit“. Damit gab es neben den Strategien „ja“ oder „nein“ bei der Euro-Gruppe die zusätzliche Alternative „heute nein/morgen ja“. Damit war gemeint, dass es für Griechenland kurzfristig keine Fremdhilfe gibt, sondern erst nach Erfüllung gewisser Bedingungen.

Das neue Spiel ist im unteren Teil der Grafik dargestellt. Die Zusatzstrategie E schafft in der Konflikt-Matrix die zwei zusätzlichen Felder EA und EB. Für beide Spieler zählen die Präferenzordnungen nun von „1“ bis „6“. Um die Sache etwas zu vereinfachen, machen wir zur Herleitung der neuen Präferenzordnungen folgende Annahmen: Die Euro-Gruppe bewertet E sehr gut, Griechenland bewertet E sehr schlecht und die alten Präferenzordnungen aus der 2x2-Matrix bleiben unverändert. Die neuen Ordnungen lauten: Für die Euro-Gruppe gilt: (1) EA, (2) EB, (3) DA, (4) CA, (5) DB, (6) CB. Analog gilt für Griechenland: (1) BC, (2) AC, (3) BD, (4) AD, (5) EB, (6) EA.

Das neue Nash-Gleichgewicht ist das Feld EB (wieder etwas dunkler gefärbt). Die Euro-Gruppe wählt die „dritte“ Strategie und Griechenland bleibt beim „nein“ zur Sparpolitik. Was ist der Unterschied vom alten zum neuen Spiel? Neu ist, dass man nicht mehr im Gefangenen-Dilemma landet. Es gibt keine Kombination, in der sich beide Seiten im Vergleich zur Nash-Lösung gleichzeitig verbessern können. Im neuen Spiel ist das Nash-Gleichgewicht auch das kollektive Optimum.

Niemand erkannte die Bedeutung des Vorschlages "Grexit auf Zeit"

Wir erinnern uns, in der derzeit gültigen Konflikt-Matrix besteht das Dilemma darin, dass die Spieler nicht in der Lage sind, die für beide Seiten bessere Lösung CA zu realisieren. Es gibt nur Verlierer. Wegen der dritten Strategie der Euro-Gruppe gibt es dagegen im neuen Spiel für beide Spieler keine bessere Lösung als EB, das heißt beide Spieler sind Gewinner.

Allerdings hatte beim Krisenmanagement im Sommer kein Entscheider der Euro-Gruppe die Bedeutung des Vorschlages „Grexit auf Zeit“ erkannt, wohl nicht einmal Schäuble selbst. Es war deshalb kein Wunder, dass der Vorschlag sang- und klanglos in der Versenkung verschwand. Damit blieb das Dilemma-Problem bestehen. Griechenland und die Euro-Gruppe haben sich zwar über die Umsetzung zentraler Sparauflagen geeinigt. Dies führte aber wieder zu landesweiten Streiks, weil die griechische Bevölkerung die Sparauflagen nicht hinnehmen wollte. Gegenüber dem Sommer hat sich die Lage nicht verändert. Es gibt auch heute nur Verlierer.

Volker Bieta ist Berater in Berlin und Lehrbeauftragter für Finanzmathematik/Spieltheorie an der TU Dresden; Hellmuth Milde ist Professor im Ruhestand an der Universität Trier und Lehrbeauftragter an der FH Schmalkalden.

Volker Bieta, Hellmuth Milde

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