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Keine Wahl. Jede Sprache zwingt ihre Sprecher zur Weitergabe bestimmter Informationen - oder auch nicht.

© dpa

Sprachwissenschaft: Dem Gefängnis der Sprache entfliehen

Die Muttersprache prägt unser Denken und unsere Wahrnehmung. Dabei entstehen geistige Gewohnheiten, die aber überwunden werden können. Der Linguist Guy Deutscher erklärt an Alltagsbeispielen, wie das gelingen kann.

Ist es tatsächlich von Belang, in welcher Sprache wir sprechen, schreiben oder forschen? Sind unterschiedliche Sprachen lediglich unterschiedliche Kleider für genau den selben Gedankenprozess oder liegt in diesem Unterschied mehr verborgen? Zwei entgegengesetzte Denkrichtungen haben auf diese Fragen gegenteilige Antworten gegeben. Auf der einen Seite steht die universalistische Tradition, die von Aristoteles im 4. Jahrhundert v. Chr., über die französischen Grammatiker des 17. Jahrhunderts bis zu Noam Chomsky reicht. Um es sehr grob zu formulieren, sind dieser Meinung zufolge alle Sprachen im Kern identisch, und die Unterschiede zwischen ihnen äußerst oberflächlich.

Auf der anderen Seite steht eine andere alte Tradition, die wir als die „relativistische“ bezeichnen können. Diese reicht mindestens bis zu Wilhelm von Humboldt zurück, also bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Humboldt zufolge ist die Verschiedenheit der Sprachen viel grundlegender als nur eine von „Schällen und Zeichen“, es ist eine Verschiedenheit der „Weltansichten selbst“. Mehr noch: Die Sprache ist nicht eigentlich Mittel, die bereits erkannte Wahrheit darzustellen, sondern Möglichkeit, die zuvor unerkannte Wahrheit überhaupt erst zu entdecken. „Das Denken“, schloss er, „ist nicht bloß abhängig von der Sprache überhaupt, sondern bis auf einen gewissen Grad, auch von jeder einzelnen bestimmten.“

Wo zwischen diesen extremen Gegensätzen können wir die Wahrheit finden? Zunächst ist die universalistische Position sehr leicht zu karikieren. Aristoteles kannte vermutlich keine andere Sprache außer der griechischen. Das ist eine ziemlich eingeschränkte Perspektive, um über die Verschiedenheit oder Ähnlichkeit aller Sprachen nachzudenken. Auch die ,Universale Grammatik’ der französischen Grammatiker des 17. Jahrhunderts kommt auf unerklärliche Weise der französischen Sprache auffällig nahe. Und bei Chomskys angeborener Universalgrammatik, zumindest in ihren früheren Fassungen, ist schwer zu übersehen, wie nah sie der Struktur der englischen Sprache kommt.

Das Problematische an den Argumenten des relativistischen Lagers ist ebenfalls recht offensichtlich. Zwar war Humboldt der erste große Denker, der sich mit der Struktur von abgelegenen Sprachen, besonders aus Ostasien und Südamerika, ernsthaft befasste. Die Einsichten, die er über die Prinzipien des Sprachbaus gewonnen hat, dienen noch heute als Grundlage für die Typologie, die Vergleichende Sprachwissenschaft. Wenn es aber um Humboldts Behauptungen über den angeblichen Einfluss der Muttersprache auf den Geist geht, dürfen wir ihm sehr wohl mangelnde Klarheit vorwerfen. Die Verschiedenheit der Sprachen sei eine der ,Weltansichten selbst’, und jede Sprache habe ihre eigene ,innere Kraft’, die die Sprecher zu verschiedenen Gedanken „anfeuert und begeistert“, erklärte Humboldt. Aber was bedeutet das genau? Seine Aussagen erreichen nie eine konkrete praktische Dimension.

Hundert Jahre später, in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, versuchten Edward Sapir and Benjamin Lee Whorf derartige Schlagwörter mit konkretem Inhalt zu füllen. Angeregt durch die philosophischen Theorien von Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein und durch Einsteins Relativitätstheorie, formulierten sie ihr „linguistisches Relativitätsprinzip“, und begannen von der „tyrannischen Herrschaft“ zu sprechen, welche „die sprachliche Form über unsere Orientierung in der Welt ausübe“. Die Weltwahrnehmung des Beobachters – so lautete ihre verbesserte Version Einsteins – hängt nicht nur von seinem Bewegungszustand ab, sondern auch von seiner Muttersprache. Sie behaupteten, dass verschiedene Sprachen ihren Sprechern inkompatible Analysen der Wahrnehmung auferlegen. Unsere Muttersprache schränke unsere Fähigkeit, Begriffe zu verstehen und die Welt wahrzunehmen, ein.

Hier ist eines ihrer beliebtesten Beispiele. Wenn wir beobachten, wie sich ein Stein durch den Raum auf die Erde zu bewegt, untergliedern wir dieses Ereignis unwillkürlich in zwei getrennte Begriffe: in einen Stein und die Bewegung des Fallens. Wir erklären also: „Der Stein fällt.“ Manche Indianersprache aber verfährt ganz anders. In diesen Sprachen gibt es kein Verb, das unserem Verb „fallen“ entspricht und mit dem sich der Vorgang unabhängig von einem bestimmten fallenden Objekt beschreiben lässt. Stattdessen verwendet man das Verb „steinen“, das jede Bewegung eines Steins bezeichnet. Der Sachverhalt, den wir in „Stein“ und „fallen“ zerlegen, wird in etwa als „es steint herab“ beschrieben. Daraus schloss Whorf, dass die Indianersprachen eine „monistische Ansicht der Natur“ erzwingen. Whorf zufolge können ihre Sprecher unsere Unterscheidung zwischen Gegenständen und Handlungen einfach nicht verstehen, weil sie unsere Bezeichnungen nicht haben.

Gewiss, der Ausdruck „es steint herab“ klingt seltsam, aber bedeutet diese Seltsamkeit, dass der Vorgang unbedingt auf eine andere Weise wahrgenommen werden muss? Bedeutet die Verschmelzung von Verb und Substantiv zwangsläufig, dass Sprecher dieser Sprache keine getrennten Bilder von dem Geschehen und dem Objekt im Kopf haben können? Nehmen wir den deutschen Satz „es regnet“. Das Deutsche verhält sich hier wie eine Indianersprache. Das Objekt, nämlich die Wassertropfen und der Vorgang des Fallens, werden nicht getrennt, sondern zu einem einzigen verbalen Begriff vereint: ‚regnen’.

Der Trugschluss, welcher der Argumentation von Sapir und Whorf zugrunde liegt, lässt sich mit einem bekannten Ausspruch Nietzsches charakterisieren – den Nietzsche so allerdings nie formuliert hat. In englischer Übersetzung lautet er folgendermaßen: “We have to cease to think if we refuse to do so in the prison-house of language.“ Tatsächlich hatte Nietzsche nicht von einem Gefängnis gesprochen, sondern gesagt: „Wir hören auf zu denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwange tun wollen.“ In der angelsächsischen Welt ist die Fehlübersetzung jedoch zu einer stehenden Redewendung geworden.

Wie sich die Dinge fügen, fasst „das Gefängnis der Sprache“ kurz und bündig zusammen, was an der „linguistischen Relativität“ falsch war – und zwar die Annahme, dass unsere Muttersprache ein Gefängnis ist, das die Konzepte und Unterscheidungen begrenzt, die wir zu verstehen vermögen. Der Fehlschluss der „linguistischen Relativität“ war die Annahme, dass wir uns nur die Konzepte vorstellen können, die in unserer Sprache bereits vorhanden sind.

Vielen Englischsprechern ist das deutsche Lehnwort „Schadenfreude“ nicht bekannt. Trotzdem fällt es ihnen nicht schwer, das Gefühl zu verstehen, dass man sich am Unglück eines anderen Menschen weidet. Und umgekehrt, denken Sie an die beiden verschiedenen englischen Begriffe „when“ und „if“. Auf Deutsch werden sie regelmäßig mit demselben Wort übersetzt – „wenn ich komme“ kann ja beides ’when I come’ oder ’if I come’ bedeuten. Aber sind Deutschsprecher deswegen unfähig, den logischen Unterschied zu verstehen, zwischen dem, was unter bestimmten Bedingungen geschehen könnte, und dem, was in jedem Fall geschehen wird?

Die Idee, unsere Muttersprache könne Einfluss auf unser Denken haben, dürfen wir dennoch nicht ganz verwerfen. Doch um den wahren Einfluss der Sprache auf das Denken zu verstehen, müssen wir der Täuschung entkommen, dass die Sprache ein Gefängnis für das Denken ist. Stattdessen müssen wir uns einer grundlegenden Einsicht zuwenden, die ich als das Boas-Jakobson-Prinzip bezeichne. Der Anthropologe Franz Boas stammte aus einer deutsch-jüdischen Familie aus Minden und wanderte gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach Amerika aus.

1938 machte Boas eine scharfsinnige Beobachtung über die Verschiedenheit der Sprachen, die 20 Jahre später von dem russisch-amerikanischen Linguisten Roman Jakobson zu einer markigen Maxime zusammenfasst wurde: „Sprachen unterscheiden sich hauptsächlich durch das, was sie vermitteln müssen, und nicht durch das, was sie vermitteln können.“ Mit anderen Worten, der entscheidende Unterschied zwischen Sprachen liegt nicht darin, was jede Sprache ihren Sprechern auszudrücken gestattet – denn theoretisch könnte jede Sprache alles zum Ausdruck bringen –, sondern in den Informationen, zu deren Wiedergabe jede Sprache ihre Sprecher zwingt.

Jakobson führt das folgende Beispiel aus der Alltagssprache an: Wenn ich auf Englisch sage “I spent yesterday evening with a neighbour“, dann können Sie sich durchaus die Frage stellen, ob ich mit einem Mann oder mit einer Frau ausgegangen bin. Aber ich habe das Recht, Ihnen höflich zu erklären, dass Sie das nichts angeht. Wenn wir aber Deutsch sprechen, dann verfüge ich nicht über das Privileg, die Dinge im Unklaren zu lassen, denn ich werde von der Sprache dazu gezwungen, mich zwischen Nachbar oder Nachbarin zu entscheiden. Deutsch zwingt mich also, Sie über das Geschlecht des Menschen, der mich begleitet hat, zu informieren.

Das bedeutet natürlich nicht, dass Englischsprecher die Unterschiede zwischen Abenden, die man mit Nachbarn, und solchen, die man mit Nachbarinnen verbringt, nicht wahrnehmen. Ebenso wenig bedeutet es, dass Englischsprecher den Unterschied nicht ausdrücken können, falls sie das wünschen sollten. Es bedeutet nur, dass Englischsprecher nicht verpflichtet sind, das Geschlecht anzugeben, jedes mal wenn von dem Menschen aus dem Nachbarhaus die Rede ist, während diese Verpflichtung für die Sprecher mancher Sprachen gewohnheitsmäßig besteht.

Das Boas-Jakobson-Prinzip ist der Schlüssel, mit dem sich die tatsächlichen Auswirkungen einer bestimmten Sprache auf das Denken enthüllen lassen. Wenn verschiedene Sprachen den Geist ihrer Sprecher auf unterschiedliche Weise beeinflussen, dann nicht wegen der Dinge, die jede Sprache angeblich den Menschen zu denken gestattet. Vielmehr ist der Einfluss eine Folge des Umstands, dass Menschen von Kindesbeinen an gewohnheitsmäßig bestimmte Ausdrucksweisen verwenden. Denn schließlich können sich Sprachgewohnheiten zu geistigen Gewohnheiten verfestigen, die uns über das Sprechen hinaus beeinflussen, und die Konsequenzen für unsere Denkweise und Wahrnehmung der Welt haben können. Wenn unsere Sprache uns dazu zwingt, auf gewisse Aspekte der Erfahrung gewohnheitsmäßig achtzugeben, kann diese Notwendigkeit uns trainieren, ein besonderes Gespür oder eine Sensibilität für bestimmte Details zu entwickeln, und fördert bestimmte Arten von Gedächtnis und Assoziationen.

In den letzten Jahren konnte experimentell nachgewiesen werden, dass solche Sprachgewohnheiten einen Einfluss auf die Wahrnehmung ihrer Sprecher ausübten. Eines dieser Beispiele betrifft das Genus, oder das grammatische Geschlecht unbelebter Objekte. Wer etwa Deutsch als Fremdsprache lernt, hört häufig, man solle der Tatsache, dass Brücken weiblichen und Schlüssel männlichen Geschlechts sind, keine weitere Bedeutung beimessen. Es handele sich lediglich um eine grammatische Eigenheit.

Natürlich ist es richtig, dass kein Sprecher des Deutschen tatsächlich glaubt, Brücken seien biologisch betrachtet weiblich. Und dennoch haben eine ganze Reihe unterschiedlicher Experimente empirisch gezeigt, dass das grammatische Geschlecht der unbelebten Gegenstände die alltäglichen Assoziationen färbt, die Muttersprachler mit diesen Gegenständen in Verbindung bringen. So tendieren Sprecher des Deutschen beispielsweise dazu, Brücken eher „weiblich“ konnotierte Attribute zuzuschreiben (schmal, elegant), während Sprecher des Spanischen, für die Brücken grammatisch männlich sind, sie häufiger mit eher männlich besetzten Attributen in Verbindung bringen, wie kräftig.

Es geht nicht darum, dass unsere Muttersprache uns davon abhält, Unterscheidungen und Konzepte anderer Sprachen zu verstehen oder wahrnehmen zu können. Wenn eine Sprache uns zwingt, über Brücken zu sprechen, als wären sie Frauen, bedeutet das nicht, dass wir nicht imstande sind zu verstehen, dass unbelebte Objekte kein biologisches Geschlecht haben. Und dennoch können die Sprechgewohnheiten, die uns von jungen Jahren an eingebläut wurden, entscheidenden Einfluss auf unser Denken und unsere Wahrnehmung ausüben.

Der Autor ist israelischer Linguist und Buchautor, er lehrt in Manchester. Zuletzt erschien von Deutscher „Im Spiegel der Sprache. Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht“ (C.H. Beck, 2010).

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