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Zerstrahlt. Beim Urknall entstandene Materie und Antimaterie vernichtete sich zum großen Teil sogleich wieder gegenseitig. Die dabei erzeugte Strahlung ist bis heute nachweisbar. Foto: Mauritius

© mauritius images

Urknall: Der Sprung im kosmischen Spiegel

Wir Materie-Kevins sind offenbar allein zu Haus im Kosmos: Zu den großen Rätseln der Physik gehört die Frage, warum nach dem Urknall nur Materie übrig blieb.

Die Natur liebt Symmetrien mit Webfehler. Wenn man das Foto einer Gesichtshälfte am Computer mit ihrem Spiegelbild zusammensetzt, erscheint dieses künstliche Gesicht langweilig, weil es perfekt symmetrisch ist. Noch viel langweiliger wäre unser Universum, wenn der Urknall vor 13,7 Milliarden Jahren vollkommen symmetrisch abgelaufen wäre. Ein solcher Kosmos enthielte zwar viel Strahlung, aber keinerlei Materie. Es gäbe uns nicht. Nach der heute etablierten Vorstellung der Physik vom Anfang der Welt entstanden nämlich gleiche Mengen an Materie und Antimaterie aus der geballten Urknallenergie. Da das Babyuniversum noch winzig war, drängten sich die Gegenspieler eng zusammen. Sie vernichteten sich gegenseitig zu reiner Strahlung, wie dies beim Kontakt zwischen Antimaterie und Materie immer geschieht. Das Lichtecho dieses unvorstellbar gewaltigen Blitzes „hallt“ heute noch in der kosmischen Hintergrundstrahlung nach.

Dass Sie dennoch existieren und zum Beispiel diese Zeitung lesen können, liegt vermutlich an einem kleinen Sprung im Spiegel zwischen Materie und Antimaterie. Deshalb überlebte ein winziger Überschuss an Materie den Urknall, etwa der milliardste Bruchteil, während die Antimaterie völlig verschwand. Dieser Materierest formte Galaxien, Sterne und Planeten wie unsere Erde. Doch woher kommt dieses kleine Plus, dem wir unsere Existenz verdanken?

„Das ist die große Frage, nach deren Antwort die Physik sucht“, sagt Alban Kellerbauer. Antimaterie ist das Forschungsgebiet des Physikers vom Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg. Im Gespräch zitiert er eine augenzwinkernde Warnung des amerikanischen Physiknobelpreisträgers Richard Feynman. Wenn man einen Außerirdischen träfe und der einem die linke Hand zum Gruß reichen würde, scherzte Feynman einst, dann solle man sich in Acht nehmen: Er könne aus Antimaterie bestehen. Doch seit Ende der 1990er Jahre wissen die Physiker, dass wir mit solch gefährlichen Begegnungen kaum rechnen müssen. Es sieht stark danach aus, als ob keine Antimateriegalaxien im Universum existieren. Wir Materie-Kevins sind offenbar allein zu Haus im Kosmos.

Diese Erkenntnis verdanken wir dem Alpha-Magnet-Spektrometer AMS-01, das ein Space Shuttle 1998 huckepack in eine erdnahe Umlaufbahn hievte. Allerdings reichte der Beobachtungshorizont von AMS-01 noch nicht bis zum Rande des sichtbaren Universums – und damit auch nicht zurück bis zum Urknall. Diesen tiefen Einblick soll nun sein Nachfolger AMS-02 an Bord der Internationalen Raumstation ISS liefern. AMS-02 ist in der Lage, noch empfindlicher als AMS-01 etwaige Antimaterieteilchen aus fernen Galaxien zu registrieren.

Allerdings erschwert die Suche nach dieser „primären“ Antimaterie ein Störfeuer an „sekundärer“ Antimaterie. Diese entsteht ständig im interstellaren Raum, wenn mit hoher Energie herumflitzende Materieteilchen aufeinanderprallen. AMS-02 wird jedenfalls viele Jahre in Betrieb sein müssen. Erst dann werden wir hoffentlich Gewissheit haben, ob nicht vielleicht doch irgendwo weit draußen im Universum eine Antimaterie-„Blase“ überlebt hat.

Aber worin unterscheidet sich Antimaterie von Materie? Das Antiteilchen des Elektrons zum Beispiel ist das Positron, das exakt dieselbe Masse hat. Es wurde als erstes Antimaterieteilchen in den 1930er Jahren in der Höhenstrahlung entdeckt. Die auffälligste spiegelbildliche Eigenschaft des Positrons ist seine elektrische Ladung: Im Gegensatz zum Elektron ist sie positiv. Die Spiegeloperation, die eine elektrische Ladung in ihr Gegenteil verkehrt, heißt in der Physik „C“. Das steht für das englische „Charge“, also Ladung. „Sie allein ergibt aber noch kein physikalisches Teilchen“, sagt Kellerbauer.

Um aus Materie Antimaterie zu machen, bedarf es noch zwei weiterer Operationen: die Spiegelung des Teilchens im Raum, die „P“ für „Parität“ heißt, und in der Zeit. Das Symbol „T“ für diese Zeitumkehr kommt vom englischen „Time“ für Zeit. Die drei Operationen CPT muss man nun in beliebiger Reihenfolge durchführen, um etwa aus einem Elektron ein Positron zu machen. Der Theoretiker Wolfgang Pauli bewies 1955: Nur diese drei Operationen zusammen ergeben eine Spiegelwelt, in der die physikalischen Gesetze unverändert gelten.

Der Schlüssel zur Asymmetrie im Urknall wäre also ein physikalischer Effekt, der die CPT-Symmetrie zwischen Antimaterie und Materie so verletzt, dass Letztere minimal im Vorteil wäre. „Eine solche Verletzung der CPT-Symmetrie wurde aber bislang nicht gefunden“, betont Kellerbauer. Doch auch ein kleinerer Webfehler könnte die Erklärung liefern. Schon in den 1950er Jahren gelang der Nachweis, dass der radioaktive Zerfall mancher Teilchen immerhin die P-Symmetrie verletzt. 2001 entdeckten dann zwei große Experimente in Japan und den USA die erste CP-Verletzung. Während des Urknalls könnten Bedingungen geherrscht haben, unter denen eine solche CP-Verletzung tatsächlich der Materie ein kleines Plus verschafft haben könnte. Das zeigte der russische Physiker und spätere Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow in den 1960er Jahren.

Allerdings sind die beobachteten Effekte noch zu schwach, um eine so weltbewegende Wirkung hervorzubringen. Am LHC-Beschleuniger des Teilchenlabors Cern in Genf wurde jedoch kürzlich eine weitere CP-Verletzung beobachtet, die wesentlich stärker ist. Diese Beobachtung muss aber noch bestätigt werden. Offen ist zudem, ob sie schon helfen kann, das Rätsel unserer materiellen Existenz zu lüften.

Bleibt noch die Eigenschaft von Antimaterie, die Science-Fiction-Autoren bis heute inspiriert hat – vom Warp-Antrieb des Raumschiffs Enterprise bis zum finsteren Anschlag mit einer „Antimateriebombe“ auf den Vatikan in Dan Browns „Illuminati“. Schließlich ist die Zerstrahlung von Materie mit Antimaterie der energiereichste physikalische Prozess, der bekannt ist. „Die Vernichtung eines halben Gramms Antimaterie würde mehr Energie freisetzen als die Explosion der Atombombe von Hiroshima“, sagt Kellerbauer, beruhigt aber: „Mit der heutigen Technik bräuchten wir einige Milliarden Jahre, um ein paar Gramm davon herzustellen.“

2011 gelang es Physikern am Cern immerhin erstmals, dort erzeugte Antiwasserstoffatome auch einzufangen. Sie konnten diese einige hundert Sekunden lang in einer Falle aus Magnetfeldern speichern. Das ist vor allem interessant, weil das Wasserstoffatom ungeheuer präzise Messergebnisse bestimmter Quanteneigenschaften geliefert hat. Nun hoffen die Forscher, am gefangenen Gegenspieler ebenfalls diese Messungen vornehmen zu können. Vielleicht offenbart so der Antiwasserstoff das Geheimnis, das die Ursache für das Ungleichgewicht im Urknall war.

Roland Wengenmayr

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