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Innehalten. Der Stolperstein für Mohamed Husen ist eine Station auf den digitalen Stadtplänen des Projekts.

© Wikipedia

Vergessene Opfer: Er war Kindersoldat in Ostafrika, Exot in Berlin und ist im KZ gestorben

Das Schicksal Mohamed Husens ist eine vergessene Geschichten der Ausgrenzung. Das Berliner Projekt „Erinnerungsorte“ soll an bisher marginalisierte Opfer gedenken.

Im Jahr 2007 wurde der erste Stolperstein in den Asphalt geklopft, der an ein schwarzes Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Seitdem kann es aufmerksamen Spaziergängern in der Berliner Brunnenstraße passieren, dass sie das Haupt vor Mohamed Husen neigen. Die ereignisreiche Geschichte, die sich hinter diesem Namen verbirgt, erzählt trotz ihrer Besonderheit kein Ausnahmeschicksal. Denn Husen, der 1944 im KZ Sachsenhausen ums Leben kam, ist einer von unzähligen Menschen of Color, die hierzulande – schon lange vor dem „Dritten Reich“ – mit dem Stigma des „Anderen“ zu kämpfen hatten und bis heute unter rassistischer Ausgrenzung leiden.

Das vom Institut für angewandte Forschung Berlin geförderte Projekt „Erinnerungsorte. Vergessene und verwobene Geschichten“ forscht Lebenswelten jener Personen nach, deren Schicksale im Kanon der etablierten Erinnerungskultur nicht oder bloß unzureichend vertreten sind. Zu diesem Zweck haben die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Aktivisten nicht nur die individuellen Geschichten von marginalisierten Menschen of Color recherchiert.

Sichtbar sollen auch Orte deutscher Kolonialgeschichte werden

Die Projektleiterin Iman Attia, Professorin für Diversity Studies, Rassismus und Migration sowie interkulturelle, soziale Arbeit an der Alice-Salomon-Hochschule, erklärt, man wolle auch die Berliner Orte sichtbar machen, die von deutscher Kolonialgeschichte zeugen.

Es gehe darum, die herrschenden Erinnerungspolitiken gegen den Strich zu bürsten. „Am Bethlehems-Kirch-Platz zum Beispiel erinnert vieles daran, dass dort die erste Kirche für evangelische Glaubensflüchtlinge stand“, sagt Attia. „Nichts aber deutet darauf hin, dass hier auch die erste Schule war, die Missionare für ihren Einsatz in Kolonien ausgebildet hat.“ Ein anderer Ort, an dem die Spuren der kolonialen Vergangenheit getilgt sind, ist der Potsdamer Platz, wo nichts mehr an das einstige Erlebnisrestaurant „Haus Vaterland“ erinnert, in dem Personen of Color beschäftigt wurden, um ein koloniales Flair zu erzeugen. Auch dass in der Wilhelmstraße die Berliner Afrika-Konferenz stattfand, auf der die europäischen Mächte den kolonisierten Kontinent am Reißbrett unter sich aufteilten, ist nach wie vor den wenigsten bekannt.

Auf der Website des Praxisforschungsprojekts (www.verwobenegeschichten.de), die unlängst an den Start ging und stetig ergänzt werden soll, sind mehrere Touren durch Berlin verfügbar. Mit diesen digitalen Karten kann man sich über Orte im Stadtbild informieren, die eine rassistische Vergangenheit haben. In einigen Fällen hat sich die ehedem gängige Praxis der Diskriminierung auch bis in die Gegenwart fortgesetzt. So plädiere man unter anderem für die langfristige Umbenennung von Straßennamen, die unkritisch an Kolonialverbrecher erinnern oder eine rassistische Sprache verwenden würden, wie die berühmte „M-Straße“ in Mitte, sagt Attia.

Das etablierte Geschichtsbewusstsein soll korrigiert werden

Den am Projekt „Erinnerungsorte“ Beteiligten geht es also darum, das etablierte Geschichtsbewusstsein zu stören und zu korrigieren, zu ergänzen und auseinanderzunehmen. So sollen jene dunklen Bereiche der deutschen Vergangenheit erhellt werden, die im kollektiven Gedächtnis nicht genug repräsentiert sind.

Das gilt auch für den Holocaust. Tatsächlich wird der Porajmos, der Völkermord an den europäischen Roma und Sinti, in der deutschen Öffentlichkeit bis heute vergleichsweise wenig thematisiert – eine empfindliche Lücke angesichts des grassierenden Antiziganismus.

Eine weitere marginalisierte Gruppe, deren Präsenz in Deutschland bislang nur wenig erforscht ist, sind sephardische Juden, die häufig aus der Türkei stammten. „Um die Jahrhundertwende waren mehr als die Hälfte der türkischen Migranten in Berlin sephardische Juden“, sagt Attia. Das führte gleich auf mehreren Ebenen zu Ausgrenzung, da die betreffenden Personen als Juden und als Orientalen „rassifiziert“ wurden. Am Schicksal jüdisch-türkisch-deutscher Personen zeigt sich aber auch etwas ganz anderes: dass Migration nicht erst mit der Anwerbung von Gastarbeitern in den 1960er Jahren begann, sondern schon lange vorher alltäglich war.

„Deutschland ist kein abgegrenzter Raum, kein Container. Es gibt komplexe globalgeschichtliche Relationen, die aber oft verschüttet sind“, sagt Iman Attia. So wolle man nicht zuletzt auch in der historisch-politischen Bildung die Verschränkungen von verschiedenen Epochen und Erdteilen thematisieren. Zum Beispiel sei es verkürzt, die Shoah isoliert, als zivilisatorischen Bruch zu begreifen. Vielmehr müsse man, ebenso wie den Unterschieden und Spezifika, auch den historischen Kontinuitäten und Verflechtungen Rechnung tragen, die zwischen frühneuzeitlichem Sklavenhandel, deutscher Kolonialpolitik und nationalsozialistischem Rassenwahn bestehen würden.

Deutschland und Namibia teilen eine gemeinsame Geschichte

Auch die Räume sind in globalgeschichtlicher Perspektive auf vielfältige Weise verwoben. Deutschland und Namibia teilen eine gemeinsame Geschichte. Aber diese geteilte Geschichte teilt die betreffenden Nationen auch: in diejenige, die den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts zu verantworten hat, und in die, die noch heute unter den Folgen des Völkermordes leidet.

Auf jeden Fall sei es geboten, Migrationsgeschichten auch als deutsche und als Berliner Geschichten zu erzählen, sagt Attia. Auf diese Weise würden marginalisierte Minderheiten nicht durch ihre Festlegung auf eine fremde Geschichte ein weiteres Mal zu Fremden gemacht. Es gehe außerdem darum, der komplexen Verwobenheit Rechnung zu tragen.

Für eine solche Berliner Geschichte legt das Leben Mohamed Husens eindrücklich Zeugnis ab. Im heutigen Tansania aufgewachsen, kämpfte er als Kindersoldat in der „Schutztruppe“ Ostafrikas für den deutschen Kaiser. 1929 reiste Husen nach Berlin, um vergeblich seinen ausstehenden Sold einzufordern. Er gründete eine Familie, verdingte sich als Kellner im Erlebnisrestaurant „Haus Vaterland“, nahm an sogenannten Völkerschauen teil, spielte kleinere und größere Rollen in deutschen Filmproduktionen.

In den 1930er Jahren beantragte Husen, der sich fürs Deutsche Reich hatte anschießen lassen, das Ehrenkreuz für Frontkämpfer. Man hat es ihm verweigert, weil er als zu anders angesehen wurde, um als guter Deutscher zu gelten. 1941 wurde er nach Sachsenhausen deportiert, wo er drei Jahre später ums Leben kam. Der Stolperstein in der Brunnenstraße ist ein Erinnerungsort für Mohamed Husens vergessene und verwobene Geschichte.

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