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Anerkennung. Nicht nur während des Corona-Lockdowns wurde die Arbeit der Wenckebach-Klinik hoch geschätzt.

© picture alliance / Andreas Gora

Zum 250. Geburtstag von Hegel: Was hat sich Hegel dabei gedacht?

Vier Doktorandinnen und Doktoranden arbeiten in ihren Dissertationen zum Werk des Philosophen: etwa zur Zielgerichtetheit von Prozessen oder zum gesellschaftlichen Beitrag von Kunst.

1. VERFOLGT DIE NATUR ABSICHTEN?

Menschen erleben sich als in Zwecken denkende und agierende Wesen. „Wir setzen uns Zwecke, die wir realisieren“, sagt Karen Koch. „Das kann zum Beispiel ein Tisch sein, von dem man zunächst eine Idee im Kopf hat, und den man anschließend baut, das heißt, in einem zielgerichteten Prozess verwirklicht.“ Doch was ist mit der Natur?

In ihrem Dissertationsprojekt geht Karen Koch der Frage nach, ob es zielgerichtete Entwicklungen auch unabhängig von Menschen gibt. Kann man etwa von der Natur sagen, dass sie Zwecke verfolgt und in diesem Sinne zielgerichtet sei? „Im alltäglichen Denken gehen wir ständig davon aus“, sagt die Doktorandin. „Etwa wenn wir sagen, das Herz sei dazu da, die Lungen mit Blut zu versorgen.“ Philosophisch sei solch eine Aussage allerdings voraussetzungsreich.

„Man impliziert damit, dass es entweder eine Art von Schöpfergott geben muss, der für die zweckmäßige Einrichtung der Natur verantwortlich ist“, sagt Karen Koch, „oder dass sich das Herz beziehungsweise der Organismus seine organische Funktion selbst als Zweck gesetzt hat.“ 

Da wir Ersteres nicht einfach dogmatisch behaupten können und Letzteres schwer einzusehen ist, ist Immanuel Kant zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei der Vorstellung zweckgerichteter Prozesse in der Natur um zwar notwendige Zuschreibungen unsererseits handelt, die für uns aber letztlich unverständlich bleiben. Hegel sei da offener. 

„Im Rahmen meiner Dissertation arbeite ich heraus, wie Hegel zweckmäßige Prozesse in der Natur denkt und verständlich machen will“, sagt Doktorandin Karen Koch, „ohne dabei auf die Annahme eines Schöpfergottes zurückgreifen zu müssen.“

Unverändert aktuell. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831).

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2. VOM RINGEN UM WAHRHEIT

Hegels Begriff des Geistes, erläutert Tobias Wieland, kenne drei Unterbereiche: den subjektiven Geist, der im Zeichen der Anthropologie, der Lehre vom Menschen, steht; den objektiven Geist, den Hegel vor allem in seiner Rechtslehre untersucht. Und schließlich den absoluten Geist, der sich aus Kunst, Religion und Philosophie zusammensetzt. 

„In meiner Arbeit versuche ich, Hegels Grundgedanken des absoluten Geistes zu aktualisieren“, sagt Wieland, „und zwar in Hinblick auf soziale Bewegungen und kulturelle Pluralität“. 

Es gehe darum zu zeigen, dass gesellschaftliche Vielfalt und das Austragen von gesellschaftlichen Konflikten um Bedeutung und Interpretation des Menschseins notwendiger Bestandteil dessen sind, was Hegel als Wahrheit und sozialen Fortschritt definiert.

Den Einstiegspunkt bildet für Wieland dabei die Kunst. „In der Ausgestaltung des ästhetischen Materials kommt das Ringen um Wahrheit zum konkreten Ausdruck“, sagt Wieland. Kunst leiste einen zentralen Beitrag zu einer offenen Gesellschaft, indem sie Selbstverständnisse artikuliert und kanonisiert. 

Ein markantes Beispiel Hegels sei etwa eine Adonis-Statue, in der bestimmt werde, was als Ideal männlicher Schönheit gelte. Kunst hinterfrage solche Erwartungen aber zugleich.

Dieser „agonale“ Wahrheitsbegriff, ein Wahrheitsbegriff, der sich durch einen konfliktuellen Aushandlungsprozess auszeichne, lasse sich mit Hegels Theorie des Absoluten auf Religion und Wissenschaft übertragen. „Kunst, diskursiv gelebte Religion und Philosophie sind Orte der Partizipation an kultureller Selbstbestimmung“, sagt Wieland. „Für autokratische Regime sind sie deshalb so etwas wie die natürlichen Feinde.“

3. ANSPRUCH AUF GLEICHBEHANDLUNG

„In meiner Dissertation versuche ich zu zeigen“, sagt Tal Meir Giladi, „dass zwischenmenschliche Beziehungen von bestimmten Problemen geprägt sind, die nach Hegel nur unvollkommen gelöst werden können.“ Hegel unterstreiche, dass eine unmittelbare Begegnung keinen Zugang zur Innerlichkeit des Gegenübers bieten könne.

Die Voraussetzungen für das Gelingen zwischenmenschlicher Verständigung liegen daher in gesellschaftlichen Institutionen, die versichern können, dass die Anderen unseres Gleichen sind. Das Paradigma einer solchen Institution sei für Hegel das moderne Rechtssystem mit seinem Anspruch auf Gleichbehandlung. 

„Ein Teil meiner Arbeit“, sagt Giladi, „besteht nun darin zu argumentieren, dass solche Institutionen nach Hegel letztendlich fragil sind.“ Sie seien von unvermeidlichen Problemen gezeichnet, etwa der strukturellen Instabilität von internationalen Beziehungen bis hin zur Möglichkeit des Kollapses von Staaten. 

Letztlich könnten so auch jene Institutionen kollabieren, welche die Voraussetzungen für gelungene zwischenmenschliche Beziehungen bildeten. „Zwar haftet Hegel das Bild eines Philosophen an, der das Bestehende zu verklären suchte“, sagt Giladi, „aber seine Philosophie bestreitet die Unvollkommenheiten des Politischen nicht. Vielmehr zeigt sie, dass einige dieser Unvollkommenheiten der politischen Sphäre inhärent sind.“

4. SELBST- UND FREMDBESTIMMUNG

„In vielen gesellschaftlichen Diskursen wird heute die Forderung nach einer eigenen Stimme laut“, sagt Lilja Walliser. „Aber es ist gar nicht so leicht zu sagen, was das eigentlich heißt: die eigene Stimme, und was das mit der eigenen Haltung und Überzeugung zu tun hat.“ 

Gerade Hegel, dessen Philosophie in Bezug auf sprachliche Praktiken die Rolle von Konflikten unterstrichen habe, zeichne ein komplexeres Bild dieser Frage.

„Hegel hat argumentiert, dass es beim Ausdruck der eigenen Überzeugung immer auch um Anerkennung geht, die durch Konflikte geprägt ist“, wie Walliser herausstellt. „Das Verständnis der eigenen Überzeugung hat stets auch damit zu tun, wie andere auf den eigenen Standpunkt reagieren.“ 

Wallisers Dissertation setzt sich mit der Frage auseinander, wie man in kommunikativer Interaktion so etwas wie einen eigenen Standpunkt gewinnen kann. „Ich untersuche das Verhältnis von Selbst- und Fremdbestimmung im sprachlichen Ausdruck“, sagt sie. 

Anhand von Hegels Phänomenologie des Geistes zeigt sie, wie Praktiken der Artikulation – etwa dem Gestehen oder dem Verzeihen – stets ein reflexives Moment innewohnt. 

„Wenn wir gestehen oder verzeihen, handeln wir dabei auch aus, inwiefern wir im Beanspruchen einer eigenen Stimme immer von anderen abhängig sind“, sagt Walliser.

Dennis Yücel

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