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© Katharina Eglau

Forschungsschwerpunkt Politisches Denken: „Wir sehen nicht das Fröhliche im Islam“

Gudrun Krämer über Vorurteile gegen Muslime, Demokratie im Vorderen Orient und „Europa im Nahen Osten – der Nahe Osten in Europa“

Sie reisen viel durch die islamische Welt. Welches Erlebnis hat Sie in der letzten Zeit am meisten gefreut?

Vor und nach dem 11. September 2001 war ich in Indonesien und habe einige Zeit an der Islamischen Universität in Jakarta unterrichtet. Diese Verbindung von Anschauung, wissenschaftlicher Analyse und Begegnung dort hat mir sehr gut gefallen. So würde ich gerne häufiger Wissenschaft machen. Aber auch in Marokko, Ägypten und Usbekistan habe ich in den letzten Jahren anregende und schöne Begegnungen gehabt.

Was hat sich in den letzten dreißig Jahren geändert – zum Positiven oder zum Negativen?

Das Negative fällt mir schneller ein – die zunehmende Verhärtung, der Verdacht, der Westen sei gegen den Islam, gegen die Muslime, gegen die Araber oder gegen die Türken. Das führt öfters zu unschönen Diskussionen. An Positivem könnte ich nicht sagen, dass sich innerhalb einer Generation etwas Greifbares verändert hätte – hier sind meine Eindrücke eigentlich eher gleichbleibend. Wenn Sie mich also nach der Veränderung während der letzten dreißig Jahre fragen, dann steht für mich leider das Negative im Vordergrund.

Der Islam argumentiert gerne mit seinem goldenen Zeitalter – der Epoche der Expansion, der islamischen Aufklärung und des islamischen Großreiches. Mit dem 15. Jahrhundert spätestens scheint der Zenit erreicht. In den letzten 500 Jahren wurde der Westen immer stärker, während sich in der islamischen Welt ein Gefühl der Ohnmacht, der Erniedrigung und der Schwäche eingenistet hat. Gibt es für Sie eine Erklärung für diese chronische Schwächung des Islam?

Man muss diese Frage umdrehen und sich ansehen, was sich in Europa verändert hat. Warum ist Europa so dynamisch und expansiv geworden im kreativ-künstlerischen, kulturellen und auch politischen Sinne? Und warum ist Europa gleichzeitig so aggressiv-destruktiv geworden in politisch-militärischer und ökonomischer Hinsicht? Die Frage von Bernard Lewis, „was ist schief gelaufen im Islam“ (What went wrong?), diese Frage führt in die Irre. Abgesehen davon ist die kulturelle Kreativität des Islam – sowohl die wissenschaftliche als auch die künstlerische – keineswegs im 14. Jahrhundert oder auch, wie oft vermutet wird, mit dem Fall das Kalifats in Bagdad im Jahr 1258, abgebrochen.

Die heutige Bilanz des Nahen und Mittleren Ostens ist nicht gerade überzeugend: Autoritäre Regime, Korruption, Armut und Rückständigkeit. In der arabischen Welt vom Golf bis zum Atlantik existiert praktisch kein Staat mit einer funktionierenden Demokratie. Ist der Islam überhaupt kompatibel mit Demokratie?

Es ist richtig, dass sich im Vorderen Orient mit Ausnahme der Türkei und Israels keine funktionsfähige Demokratie nach europäischen Maßstäben entwickelt hat. Das hat interne und externe Gründe. Den Anteil des Islam an dieser Negativbilanz setze ich allerdings ganz niedrig an.

Warum?

Die politischen Schlussfolgerungen, die man aus der islamischen Lehre ziehen kann, sind so vielfältig, dass sie in sehr unterschiedliche Richtungen gestreckt werden können. Man kann aus der koranischen Lehre ein hochgradig partizipatives politisches Modell ableiten, aber auch ein stark autoritäres Modell. Beides ist möglich und beides ist geschehen. Wenn eine religiöse Lehre aber so interpretierfähig und so dehnbar ist, dann würde ich sie nicht dafür heranziehen, real-existierende Missstände zu erklären.

Wo liegen dann die Erklärungen?

In der sozialen und politischen Geschichte – unter anderem in der sehr ambivalenten und widersprüchlichen Bilanz der europäisch-nahöstlichen Beziehungen. Von Europa aus gab und gibt es durchaus Bemühungen, Demokratie zu fördern, Rechtsstaatlichkeit zu verankern, partizipatorische Elemente zu entwickeln und Repression zu tabuisieren. Es gab und gibt aber auch das unbedingte Pochen auf Stabilität, die verzweifelte Suche nach prowestlichen und proisraelischen Akteuren, die die Einführung von Demokratie immer wieder konterkariert haben. Das ist besonders deutlich seit dem 11. September 2001.

Wie könnte eine Demokratie aussehen, die gleichzeitig die spezifischen Traditionen des muslimischen Kulturkreises respektiert?

Die größten Gemeinsamkeiten mit unseren Vorstellungen liegen in Institutionen wie Wahlprinzip, Rotation an der Spitze des Staates und im Prinzip der Repräsentativität. Auch das Wahlrecht für Männer und Frauen lässt sich ohne weiteres islamisch fundieren. Was sich deutlich unterscheiden würde, wäre die religiöse Fundierung einer Demokratie. Um zumindest heute ein demokratisches System in der muslimischen Welt akzeptabel zu machen, müsste man sehr stark betonen, dass es auf dem Islam basiert, dem Koran nicht widerspricht und mit der Scharia, der islamischen Rechts- und Werteordnung, kompatibel ist.

Was bedeutet das?

Die Befürworter der Demokratie müssten sich auf die eigene religiöse Tradition als Begründung bestimmter politisch-relevanter Werte und bestimmter Institutionen berufen. Sonst kämen sie in den Ruf, nur ein weiteres westliches Modell zu importieren und es der eigenen Bevölkerung aufzwingen zu wollen. Die Frage ist, wie viel praktische Auswirkungen ein Bezug auf den Islam tatsächlich hat. Auch in Europa sind ja, was heute viele vergessen, die Menschenrechte zunächst einmal christlich begründet worden. In der einen oder anderen Weise müsste sich Demokratie auf die Scharia berufen – also diese im Einzelnen häufig schwer greifbare islamische Rechts- und Werteordnung. Die Scharia ist mehr als das Gesetz und auf jeden Fall mehr als das Strafrecht, das bei uns zu Recht solche Empörung auslöst. Wenn man diese religiöse Fundierung als Voraussetzung akzeptiert, bekommt man eine klarere Vorstellung davon, was politisch derzeit möglich ist und was nicht.

Und was ist nicht möglich?

Die größten Schwierigkeiten liegen bei den Grundrechten Gleichheit und Freiheit, nicht hingegen bei Gerechtigkeit. Die Gleichheit von Mann und Frau ist im Politischen grundsätzlich kein Problem – das aktive und passive Wahlrecht existiert in vielen islamisch geprägten Staaten für Männer wie für Frauen. Die Gleichheit von Muslimen und Nichtmuslimen wird gleichfalls in vielen Verfassungen garantiert, doch legt die Scharia an sich die Dominanz der Männer gegenüber den Frauen und der Muslime gegenüber den Nichtmuslimen fest. Hier besteht somit noch deutlicher Interpretationsbedarf. Bei den Freiheitsrechten sagen selbst Islamisten, Freiheit sei ein Grundwert des Islam. Sie sprechen da gar nicht anders als Martin Luther. Wenn es aber konkret um die individuellen Freiheitsrechte geht – die selbstgewählte Lebensweise und Partnerschaft zum Beispiel, auch sexuelle Präferenzen – werden ganz schnell harte Grenzen gezogen. Diese Grenzen decken sich weitgehend mit dem, was vor vier Jahrzehnten auch in der Bundesrepublik noch als christlich-anständig verstanden wurde.

Das zivilgesellschaftliche Leben in vielen arabischen Städten ist recht langweilig. Zwischen den beiden Säulen Staat-Regierung einerseits und Moschee andererseits gibt es offenbar nur zwei Hauptbeschäftigungen: Einkaufen und essen. Ein Zerrbild?

Es gibt Gesellschaften, bei denen das im Großen und Ganzen zutrifft, Saudi-Arabien zum Beispiel. Ansonsten aber herrscht große Vielfalt. Im Libanon oder in Ägypten können die Menschen einiges mehr tun, als sich vielstündige Reden des politischen Führers im Fernsehen anzusehen oder in die Moschee zu gehen. Dort gibt es ein geselliges Leben innerhalb und außerhalb der Familie, es gibt Unterhaltung, Lebendigkeit, Humor. Unser Bild in Deutschland von der arabischen Welt ist nicht zuletzt deshalb so negativ, weil wir in der Regel das Lebendige und Fröhliche, das Warmherzige, das anderen Zugewandte nicht sehen und nicht erlebt haben. Stattdessen dominieren in unseren Vorstellungen finstere Bilder, Schranken, Mauern, bärtige Männer und schwarz verhüllte Frauen.

Ein zentraler Bestandteil von Zivilgesellschaft ist auch der Umgang zwischen Männern und Frauen, der vertraute Umgang miteinander, der Zugang für Frauen zu allen Bereichen des zivilen Lebens. Wie stark hemmt die Trennung von männlicher und weiblicher Sphäre die gesellschaftliche Weiterentwicklung?

Die in manchen Gesellschaften sehr rigide Trennung der Geschlechter wirkt ohne Zweifel hemmend. Zivilgesellschaft ist in der islamischen Welt weitgehend geschlechterspezifisch organisiert. Sie kann dessen ungeachtet aktiv und engagiert sein. Dennoch muss man sagen, dass die Geschlechterbeziehungen häufig mit Ängsten und Tabus befrachtet sind.

Welche Rolle spielen das Internet oder Satellitensender wie Al Dschasira?

Internet und Satellitenfernsehen haben die politische Situation aufgelockert. Sie erlauben eine Erweiterungen des Horizontes, die es früher nicht gegeben hat. Doch haben immer noch eher wenige Menschen Zugang zu diesen neuen Techniken – vor allem auf dem Land. Gesellschaftspolitisch haben die neuen Kommunikationstechniken bislang eher geringe Effekte. Wir können nicht sagen, dass es zum Beispiel in Ägypten, Syrien oder Algerien jetzt deutlich besser organisierte oder gegen staatliche Repression besser geschützte Zivilgesellschaften gibt als zu den Zeiten ohne Internet.

Die Türkei hat mit Abdullah Gül erstmals einen islamistischen Präsidenten. Die Regierungspartei AKP repräsentiert die neuen reformoffenen, islamisch geprägten Mittelschichten. Islam und Moderne – könnte die Türkei zum Modell werden?

Die türkische AKP steht für eine konservative Sozialmoral verbunden mit wirtschaftlicher Dynamik. Das ist sozusagen protestantischer Kapitalismus in islamischer Gestalt – eine ausgeprägte Arbeitsethik und ein ausgeprägter Leistungswille verbunden mit Tugenden wie Sauberkeit, Pünktlichkeit, Ordnungssinn und Gottesfurcht. Die Vorstellungen über Ehe und Familie bleiben konservativ. Dennoch wird die Türkei in der arabischen Welt eher als Sonderfall angesehen – unter anderem wegen ihrer brachialen Säkularisierung unter Atatürk.

Also doch kein Modell?

Wir denken immer, die Türkei könnte zum Vorbild und Leuchtturm für die islamische Welt werden. Doch die Bedeutung der Türkei für diese islamische Welt wird meines Erachtens stark überschätzt.

Vorurteile gegenüber dem Islam bei uns haben auch etwas zu tun mit dem Morden und den Selbstmordattentaten von Al Qaida. Wird die Organisation stärker oder ist sie schon jetzt überschätzt?

Al Qaida ist eine Chiffre für den gewalttätigen Islamismus. Al Qaida selbst ist gar nicht länger der Kern des Problems. Beunruhigend sind die einzelnen Zellen, die sich in unterschiedlichen Gesellschaften gebildet haben und sich mit den Ideen Osama bin Ladens identifizieren und diese in die Praxis umsetzen. Deren Zahl ist vermutlich nicht besonders hoch, und dennoch reichen kleine Zellen gewaltbereiter Täter, um ganze Gesellschaften zu terrorisieren. Wichtig sind im Blick auf die Gefahren durch Al Qaida, so konventionell das klingen mag, Vernunft und Augenmaß. Dazu gehört auch zu sehen, dass diese Gruppen nicht identisch sind mit der muslimischen Gemeinschaft als Ganzer. Auch die Neonazis kann und darf man ja nicht mit der deutschen Gesellschaft gleichsetzen.

In Deutschland gibt es Demonstrationen gegen Neonazis, es gibt zivilen Widerstand. Was tun islamische Gesellschaften gegen Al Qaida?

Es wäre sicher gut, wenn dort noch rascher, noch breiter und noch hörbarer gegen Al Qaida gesprochen würde. Die Kritik an Al Qaida findet im Übrigen durchaus statt, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen. Es gibt selbst ehedem militante Islamisten, die Osama bin Ladens Theorie und Praxis analysieren und zurückweisen. Die Kritik aber entgeht uns, weil sie nicht auf Englisch oder Deutsch stattfindet, sondern auf Arabisch, Persisch oder Türkisch. So stumm, wie es scheint, sind die muslimischen Gesellschaften nicht. Typisch aber ist eine doppelte Argumentation: Grundsätzlich gilt Gewalt als islamwidrig und daher nicht legitim. Zugleich aber gelten Gewalt und Widerstand bis hin zu Selbstmordattentaten als gerechtfertigt gegen Israel und gegen jegliche Fremdbesatzung.

Die Zahl der Selbstmordattentate ist in den letzten Jahren enorm gestiegen, die Opfer aber sind überwiegend Muslime. Ist diese spezifische Rechtfertigung von Gewalt nicht total aus dem Ruder gelaufen?

Die Selbstmordattentate in Ländern wie Marokko, Tunesien oder auf Bali werden von der breiten Öffentlichkeit einhellig verurteilt. Anders bei den Selbstmordattentaten in Israel und Palästina – diese Anschläge sieht die Mehrheit nach wie vor als gerechtfertigt an.

Islamwissenschaftler wie Fouad Ajami oder Bernard Lewis haben wissenschaftliche Schützenhilfe geleistet bei dem amerikanischen Irakfeldzug und dem Sturz von Saddam Hussein. Wie beurteilen Sie deren Rolle als Vertreter Ihres Faches?

Da mahne ich zu Bescheidenheit. Ich glaube nicht, dass deren Stimme ausschlaggebend war für diesen Krieg.

Welche Aufgabe hat heute die Islamwissenschaft?

Wir sollten die Lehre an der Universität so gestalten, dass der Islam als Religion und Kultur in seiner Vielfalt, seiner Widersprüchlichkeit und seinem Potenzial dargestellt wird. Und wir müssen versuchen, in den gesellschaftlichen Großdebatten zu Wort zu kommen – Islam und Gewalt, Islam und Demokratie, Frauen im Islam, die Funktion des Schleiers, Säkularisierung, Menschenrechte.

Finden Sie, dass wir in Deutschland ausreichend informiert sind über den Islam?

In den letzten 20 Jahren hat sich enorm viel getan – vor allem bei der Erwachsenenbildung und in den Medien. Es gibt inzwischen sehr viele gute und lesbare Bücher zum Thema. Es gibt eine Vielzahl kultureller Veranstaltungen – Tanz, Film, Theater und Ausstellungen. Was sich nicht verbessert hat, ist die Grundeinstellung, die den Islam als Problem versteht und behandelt. Muslime müssen im Prinzip erst einmal erklären, wie sie zu Gewalt, Schleier und Gleichheitsgedanken stehen. Das hat die Atmosphäre so aufgeladen, dass es für die Islamwissenschaft schwierig ist, als Brücke zwischen den westlichen und den islamischen Gesellschaften zu fungieren.

Was bedeutet das für Ihre Arbeit?

Wenn bei uns der Islam ständig als Gewaltreligion dargestellt wird, fühle ich mich aufgerufen dagegen aufzutreten. Die Gefahr ist groß, dabei apologetisch zu werden. Umgekehrt wird man in den islamischen Ländern immer wieder abgestoßen von Menschen, die den Westen verteufeln und mit ihm die Islamwissenschaft, weil sie ein Werkzeug des Kulturimperialismus oder der Geheimdienste sei. Manchmal bin ich frustriert, weil ich von beiden Seiten immer wieder dieselben Argumentationsmuster höre, immer wieder mit demselben Selbstbewusstsein und derselben Beschränktheit vorgetragen.

Was erwarten Sie von dem breiten Forschungsprogramm „Europa im Nahen Osten – der Nahe Osten in Europa“, dessen Sprecherin Sie sind?

Wir blicken in erster Linie auf die Wissenschaft – und da interessieren uns besonders Fragen der Moderne und der Modernisierung, der Werte oder der Formen gesellschaftlicher Organisation. Wir wollen mit jüngeren Wissenschaftlern aus islamisch geprägten Gesellschaften zusammenarbeiten. Dazu laden wir pro Jahr zehn Fellows ein, um mit ihnen in Seminaren, Workshops oder Sommerakademien zusammenzuarbeiten. Das Projekt baut auf dem Arbeitskreis „Moderne und Islam“ auf, der zehn Jahre lang bestand. Wir arbeiten mit einem Netz von Kontakten, das inzwischen von Indonesien bis in die USA und von Südafrika bis nach Zentralasien reicht – und das macht Spaß.

Das Gespräch führten Rolf Brockschmidt und Martin Gehlen.

Zur Person:

Gudrun Krämer , Jahrgang 1953, studierte Geschichte, Anglistik, Politik- und Islamwissenschaft in Heidelberg, Bonn und Sussex.

Seit 1996 Inhaberin des Lehrstuhls für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Sie ist Sprecherin des Kollegiums des Forschungsprogramms „Europa im Nahen Osten – Der Nahe Osten in Europa“ , in dessen Rahmen sie das Teilprojekt „Politisches Denken im modernen Islam: nahöstliche und europäische Perspektiven“ leitet.

Arbeitsgebiete: Geschichte und Gesellschaft des Vorderen Orients in der Neuzeit; Islamismus und islamische Bewegungen; islamisches politisches Denken.Tsp

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