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Im freien Fall. Der Finanzmarktcrash ab 2007 hat auch die Wirtschaftswissenschaft in eine Krise gestürzt. Die Rede war vom „Versagen der Ökonomen“. Mit der Analyse von Krisen hatte sich in der Zunft seit langem kaum jemand beschäftigt.

© picture-alliance/ dpa

Wirtschaftswissenschaften: Blind für den Absturz der Märkte

Ökonomen tun sich schwer, die Finanzkrise zu erklären. Von einem "systematischen Versagen" sprechen Kritiker. Es liegt in der Geschichte des Fachs, dass Wirtschaftswissenschaftler mit Krisen nicht umgehen können.

Die Ökonomen geben in der gegenwärtigen Finanzkrise keine gute Figur ab. Nach den eklatanten Fehlprognosen der vergangenen Jahre wird ihren Vorhersagen kaum noch Glauben geschenkt. Die Zunft wirkt, nicht zuletzt durch öffentlich ausgetragene Meinungsverschiedenheiten, tief gespalten. Allenthalben werden Forderungen nach einer methodischen Neuorientierung der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung laut. Von einem „systemischen Versagen“ spricht etwa der Kieler Professor Thomas Lux, während der Chefvolkswirt der Citigroup Willem Buiter der Disziplin mangelnde Praxisorientierung bescheinigt.

Der Großteil der theoretischen Beiträge, welche die Makroökonomie seit den 70er Jahren hervorgebracht habe, sei „bestenfalls eine selbstreferenzielle Nabelschau“ gewesen. Der Finanzmarktcrash hat also nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Wirtschaftswissenschaften in eine tiefe Krise gestürzt.

Allerdings stellt sich die Frage, ob die Rede vom Versagen der Ökonomen den Kern des Problems trifft. Es ist nämlich ein verbreitetes Missverständnis, dass sich die Wirtschaftswissenschaften besonders intensiv mit Krisen befassen. Schon ein Blick in Fachbibliografien und Bibliothekskataloge zeigt hingegen, dass der Krisenbegriff innerhalb der Disziplin fast keine Rolle spielt. Nur wenige Veröffentlichungen befassen sich explizit mit Krisen. Auch in vielen einschlägigen Nachschlagewerken taucht der Begriff überhaupt nicht mehr auf. Der amerikanische Ökonom Paul Wachtel konstatierte daher bereits vor Jahren, die Wirtschaftswissenschaften hätten „überhaupt kein theoretisches Rüstzeug, um mit dem Thema Krise umzugehen“.

Dieser Befund ist umso erstaunlicher, als die Ökonomie ursprünglich eine Krisenwissenschaft war. Die Klassiker der Nationalökonomie im 18. und 19. Jahrhundert befassten sich intensiv mit dem Krisenproblem. Verbreitete Armut und wiederkehrende Hungersnöte prägten die Erfahrungen der Europäer bis weit ins 19. Jahrhundert. Die meisten Ökonomen waren skeptisch, ob es den Gesellschaften gelingen könnte, sich dauerhaft aus dieser Lage zu befreien. So erkannte Adam Smith, der die Industrielle Revolution nicht mehr selbst erlebte, jenseits der internationalen Arbeitsteilung kaum Potenzial für wirtschaftliches Wachstum.

Robert Malthus’ Theorien sind von einem tiefen Pessimismus geprägt, da er dauerhaften Wohlstand angesichts begrenzter Ressourcen und demografischer Überschüsse für unmöglich hielt. Auch für Marx und Engels war der Krisenbegriff bekanntlich fundamental, um historischen Wandel zu erklären. Im deutschen Sprachraum hat sich schließlich auch die Historische Schule der Nationalökonomie intensiv mit Ursachen, Verlauf und Folgen von Wirtschaftskrisen befasst.

Wie der Krisenbegriff aus der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion verschwand

Seit dem späten 19. Jahrhundert ist der Krisenbegriff zunehmend aus der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion verschwunden: Das Ergebnis einer disziplinären Selbstbegrenzung, die mit der Verwissenschaftlichung der Ökonomie zusammenhing. Diese ist erst relativ spät eine eigenständige Disziplin geworden. Lange Zeit war sie mit den Staatswissenschaften, der Philosophie und Geschichte verbunden. Erst im späten 19. Jahrhundert löste sich das Fach aus dieser Symbiose.

Um als wissenschaftliche Disziplin anerkannt zu werden, orientierten sich die Ökonomen zunehmend am methodischen Selbstverständnis der Naturwissenschaften. Dies implizierte die Arbeit mit formalen Modellen und das Aufstellen allgemeingültiger Gesetze, die mit statistischen Daten empirisch belegt werden mussten. Politische und institutionelle Faktoren spielten in diesen Modellen keine Rolle.

Wenn die meisten akademischen Volkswirte den Krisenbegriff fortan als wissenschaftlich ungenau ablehnten, so hing dies auch damit zusammen, dass er seit 1900 zu einer Domäne geschichtsphilosophischer Reflektionen und universalistischer Kulturkritik wurde. Krise avancierte zu einem prägenden Deutungsmuster der europäischen Moderne, so dass der Begriff für Ökonomen zu unscharf wurde. In seinem berühmten Werk zur Konjunkturanalyse aus dem Jahr 1939 entschied Joseph Schumpeter daher, dem „Ausdruck Krise keinerlei technische Bedeutung“ beizumessen. Anstatt von Krisen sprach man lieber von konjunkturellen Abschwüngen. Sie wurden als natürliche Bewegung betrachtet, welche die Wirtschaft in einen Gleichgewichtszustand zurückversetzte. Aus der Krisentheorie wurde die Konjunkturtheorie, die sich nun als eigenes Forschungsfeld der Nationalökonomie etablierte.

Die Große Depression der 1930er Jahre hat nicht nur zu einer Ausweitung dieses Forschungsgebietes geführt, sondern auch einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Die Vorstellung, dass konjunkturelle Ausschläge unvermeidlich seien, erschien angesichts von Massenarbeitslosigkeit, Börsencrashs und dem Zusammenbruch der internationalen Wirtschafts- und Finanzordnung kaum noch überzeugend. Auch funktionierende Marktwirtschaften, so lautete die These von John Maynard Keynes und seinen Anhängern, können sich instabil entwickeln. Die keynesianische Lehre wies daher dem Staat die Aufgabe zu, zyklische Schwankungen auszugleichen und für ein stabiles wirtschaftliches Wachstum zu sorgen.

Der lange Boom der Nachkriegszeit erschien vielen als eine Bestätigung des Keynes’schen Paradigmas. Auch wenn die meisten Industriestaaten gar kein dezidiertes keynesianisches Programm verfolgten, war der Glaube an die Steuerbarkeit der Wirtschaft weit verbreitet. Die Ökonomen profitierten von diesem Optimismus, denn Politiker und Ministerien rekurrierten zunehmend auf die Gutachten und Ratschläge der Experten. Vielfach wurde davon ausgegangen, dass sich zyklische Schwankungen entlang eines langfristigen Wachstumstrends bewegten. Anstatt von Konjunkturzyklen sprach man nun häufig von Wachstumszyklen.

Diese optimistischen Vorhersagen wurden durch die Wirklichkeit schon bald widerlegt. Spätestens mit dem Ölpreisschock von 1974 wurde deutlich, dass der lange Nachkriegsboom seinem Ende entgegensteuerte. Die Theorien von Keynes wurden nun durch monetaristische und angebotsorientierte Konzepte ersetzt. Diese lehnten staatliche Konjunktursteuerung nicht nur als unwirksam ab, sondern hielten sie sogar für krisenverschärfend.

Die „große Ernüchterung“ (Tim Schanetzky) der 70er Jahre hatte immerhin zur Folge, dass die Ökonomen dem Krisenthema wieder mehr Aufmerksamkeit schenkten. Die Ölpreiskrise von 1974 und die sich mehrenden Prognosen über die „Grenzen des Wachstums“ waren Auslöser für globale Krisenszenarien, die in den Medien starkes Interesse fanden. Allerdings haben gerade solche politisch instrumentalisierten Krisendebatten dazu beigetragen, dass der Krisenbegriff innerhalb der Wirtschaftswissenschaften weiterhin zurückhaltend verwendet wurde.

Wie Forscher Panik und Herdenverhalten erklären können

Erst in jüngster Zeit zeichnet sich hier ein neuer Trend ab. Das Interesse an den Dynamiken der Finanzmärkte und ihren spezifischen Regulierungsproblemen hat stark zugenommen. Mit den „Behavioral Economics“ und der experimentellen Wirtschaftsforschung wurden ältere Annahmen über ökonomisches Handeln (rationale Erwartungsbildung, vollständige Informationen, Nutzenmaximierung) revidiert. Gerade die Finanzmarkttheorie profitiert davon erheblich, da sich Phänomene wie Panik oder Herdenverhalten nun besser erklären lassen.

Auch wie Gesellschaften mit ökonomischem Risiko umgehen und welche Rolle Krisen spielen, wird inzwischen intensiv erforscht. Krisen werden dabei nicht nur als konjunkturelle Einbrüche begriffen, sondern als elementarer Verlust von Steuerungsvertrauen. Wie der Schweizer Ökonom Hansjörg Siegenthaler gezeigt hat, sind Krisen daher auch Phasen „fundamentalen Lernens“, in der sich neue Normen und Institutionen herausbilden.

Wichtige Erkenntnisse ergeben sich durch den Vergleich mit früheren Epochen. Der Blick auf die Vergangenheit macht deutlich, dass Krisen nichts Außergewöhnliches sind, sondern zur Normalität gehören. Bestimmte Fehlentwicklungen wie Immobilienblasen lassen sich nur durch langfristige Zeitreihenanalysen angemessen untersuchen.

Es bedarf daher einer historisch informierten Krisenforschung, welche die zeitliche Dimension stärker in den Blick nimmt. Interessanterweise arbeiten führende amerikanische Ökonomen wie Robert Shiller oder Kenneth Rogoff systematisch mit historischen Analysen, während dies unter deutschen Fachvertretern eine Seltenheit ist. Ökonomen sollten zudem ihre Rolle als genuine Wissensproduzenten stärker reflektieren. Ihre Aussagen sind für das Handeln der wirtschaftlichen Akteure in hohem Maße relevant und beeinflussen somit auch Wahrnehmung und Verlauf von Krisen. Zugleich würde ein Moment der Selbstreflexivität in die Wirtschaftswissenschaften eingeführt, das der Disziplin gut anstünde.

- Der Autor ist Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität. Der Text basiert auf einem Aufsatz, der in dem Band „Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen“ (Hrsg. Thomas Mergel, Campus-Verlag) erschienen ist.

Alexander Nützenadel

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