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Essen und Trinken: Die fette Oberschicht

Immer magerer sollte Schweinefleisch sein – und verlor mit dem Fett auch seinen Geschmack. Jetzt werden alte Züchtungen von Spitzenköchen neu entdeckt

Der Mann schreckt vor nichts zurück. Schweinekutteln serviert er mit Champagnersauce und geräuchertem Seeteufel. Zur gefüllten Schweinebrust reicht er Weinbergschnecken. Und sein lackierter Schweinebauch wird von Austern und Garnelen veredelt. Wolfgang Müller, langjähriger Berliner Sternekoch, kennt bei seiner Liebe zum Borstenvieh keine Tabus. Für sein neues Schweinekochbuch (Umschau Verlag, siehe Rezept unten) hat er wagemutige Rezepturen zusammengestellt. Ungewöhnlich sind nicht nur seine Kombinationen. Ungewöhnlich ist auch sein Ehrgeiz, das ganze Tier vom Rüssel bis zum Ringelschwanz komplett zu verwerten: „Es kommt immer darauf an, was man daraus macht!“ Törtchen von der Schweinenase zum Beispiel mit Rosengelee oder ein mit Herz und Lunge gefüllter Strudel.

Da spürt man den gelernten Metzger. In dieser Eigenschaft hat Müller schon vor 30 Jahren Schweine verarbeitet. Später, als Spitzenkoch, durchbrach er immer wieder die gastronomischen Leitplanken, orderte ganze Schweine und feierte im Kreuzberger Restaurant „Horvath“, ein richtiges Schlachtfest. Müller bekennt sich zu einem Tier, das wie kein anderes zur kulinarischen Tradition und Kultur unseres Landes gehört.

Die Deutschen und das Schwein! Ja, sie lieben es, stecken Münzen in bunte Sparschweine, verschenken quietschende Ferkel als Glückssymbol, und bei einem Vierer im Lotto haben sie „Schwein gehabt“. Aber abends beim Tatort ist der Mörder eben auch „ein Schwein“. Ähnlich widersprüchlich verhält sich der Deutsche an der Fleischtheke. Dort ist ihm das Schwein von allen Nutztieren mit Abstand das liebste: 53,3 Kilo betrug der Pro-Kopf-Verbrauch 2008. Dennoch hat Schweinefleisch noch immer ein schlechtes Image, es gilt als fett, billig und banal.

Müller will das ändern, will zeigen, was sich aus gutem Schweinefleisch alles machen lässt. Womöglich klingt ihm noch das alte „Appetitlexikon“ im Ohr, das das Schwein 1894 „zu den kostbarsten und unersetzlichsten Perlen in der Krone der Kultur“ erklärte. „Es ist wie ein Prinz aus Gottes Gnaden, ganz und gar aus Verdiensten zusammengesetzt.“ Lange her!

Heute sieht Müller in der Spitzengastronomie aber durchaus eine Renaissance, die vor allem vom Ibérico-Schwein ausgelöst wurde. Das frei herumlaufende, Eicheln fressende Fettschwein der spanischen Dehesas, der Eichenhaine, steht inzwischen auf einigen Speisekarten. Auch in den Medien häufen sich Berichte über Schweine, meist alter Rassen. Die Lust auf einen anständigen Schweinebraten mit krachender Kruste hat alle Skandale überdauert. Der Stuttgarter Sternekoch Vincent Klink hat deshalb Schweinekoteletts regelmäßig auf seiner Karte. Er bezieht sie von den Hermannsdorfer Landwerkstätten, „die kosten richtig Geld“ – doppelt so viel wie üblich. Aber die Gäste fragen nach, nehmen lange Anfahrtswege in Kauf, um sich in der Wielandshöhe ein Edelkotelett braten zu lassen. Klink: „Ich kaufe immer die Fettesten.“

Womit wir bei der Qualität wären. Das in Supermärkten und vielen Metzgereien verkaufte Fleisch ist „eine einzige Enttäuschung“ sagt Müller. Und Klink ergänzt: „Das meiste Schweinefleisch wird wie Schrauben produziert – das kann nichts werden.“ Die größten Betriebe mästen inzwischen bis zu 80 000 Schweine, die in nur fünfeinhalb Monaten ihr Schlachtgewicht erreichen. Die beiden Köche bekommen wissenschaftliche Unterstützung vom Institut für Sicherheit und Qualität von Fleisch in Kulmbach: In der Schweinemast seien zwar einige der schlimmsten Auswüchse der vergangenen Jahrzehnte, extrem stressempfindliche und mit Muskelfleisch überzüchtete Tiere etwas gemildert worden, sagt Wolfgang Branscheid. Aber das Grundübel sei noch nicht beseitigt, sensorisch habe sich die Fleischqualität nicht gebessert. Der weit verbreitete Horror vor dem Fett, so der Institutsleiter, habe dazu geführt, dass Schweinefleisch seine Marmorierung verloren hat. „Reines Muskelfleisch ist heute magerer als Hühnerfleisch, wenn man beim Huhn die Haut mitisst.“

Nicht nur die äußere Fettauflage, die den Schweinekörper wie ein Schutzschild umgibt, ist geschrumpft, sondern – und das ist entscheidend – auch der „intramuskuläre Fettgehalt“ (IMF). Genau auf den kommt es aber an, wenn das Schnitzel schmecken soll. Das intramuskuläre Fett macht die berühmte „Marmorierung“ des Fleisches aus, jene kleinen Fetteinsprengsel im Muskelfleisch, die wie feine weiße Pinselstriche aussehen. Sie versprechen höchsten Genusswert, sie machen das Fleisch zart, saftig und aromatisch. Sie stehen für Spitzenqualität. Solches Fleisch ist schwer zu finden.

Inzwischen ist der muskuläre Fettanteil des Schweinefleischs nach Messungen der Kulmbacher Fleischforscher bei 0,7 bis 1,5 Prozent angekommen. Das heißt, 100 Gramm Kotelett eines durchschnittlichen Mastschweins enthalten im schieren Muskelfleisch nur noch ein Gramm Fett – und werden deshalb beim Braten schnell trocken und zäh. Brandscheit hält einen intramuskulären Fettgehalt von mindestens 2,5 Prozent für wünschenswert.

Doch eine Trendumkehr ist nicht in Sicht, solange ein Bezahlsystem regiert, das ganz auf den Magerfleischanteil fixiert ist. Je magerer und muskulöser das Schwein, desto mehr Geld bekommt der Bauer. So ist die Schweinemast zum Bodybuilding verkommen. Die Rolle der muskelmachenden Anabolika übernehmen Sojaschrot und zugefütterte Aminosäuren. Auch die Genetik der Hochleistungsschweine ist ganz auf schnelle Zunahme und magere Fleischberge zugerichtet. Um die 1,30 Euro – den Preis für fünf Zigaretten – bekommt der Mäster derzeit für ein Kilo Schweinefleisch der höchsten Handelsklasse „E“, die 60 Prozent Magerfleisch entspricht.

Wer Qualität kaufen will, muss um die üblichen Fleischtheken einen Bogen machen und Alternativen suchen. Nischenanbieter experimentieren mit alten Schweinerassen wie Angler-Sattelschweine, Bunte Bentheimer, Schwäbisch-Hällische, Mangalitzaschweine, Hampshire, Duroc. Die werden häufig mit modernen Hochleistungsebern gekreuzt, denn reinrassige Schweine alter Rassen bringen oft zu viel Fett mit. Dennoch: Das beste Fleisch, das Wolfgang Müller je gegessen hat, stammte von einem reinrassigen ungarischen Mangalitzaschwein. „Genial, ich habe einen schönen Lardo, fetten Speck, geschnitten, der war fest und knackig!“, schwärmt der Berliner Koch.

Heute ist Müllers Liebling das Havelländer Bio-Apfelschwein. Peter de Fries mästet im brandenburgischen Schmergow 4000 bis 5000 Schweine im Jahr. Durch Zufütterung von Apfeltrester hat es seinen Namen bekommen. Die wichtigsten Unterschiede zur Turbomast: Keine Sojafütterung, mehr Platz für die Tiere, ein 18 Meter langer Stall, der die Bereiche „Saufen“ und „Liegen“ trennt. So werden die Tiere gezwungen, sich mehr zu bewegen, das ist artgerechter, gesünder und sorgt für langsameres Wachstum. Die Mastdauer ist auf sieben Monate verlängert. Genetisch haben die Hampshire- und Duroc-Rasse ihre Spuren hinterlassen. Und de Fries wird nicht nach Magerfleischanteil bezahlt, er bekommt vom Gastronomiezulieferer Havelland-Express, der die Schweine als Regionalprodukt vermarktet, einen Festpreis und muss deshalb keine Muskelberge anhäufen.

Das Saalower Kräuterschwein, eine zweite regionale Spezialität des Umlands, wird mit Roggen gefüttert, inklusive aller auf dem Feld wachsenden Blumen und Wildkräuter, die sonst ein Opfer der chemischen Keule sind. Die Tiere werden in der Nachbarschaft bei der Fleischerei Lehmann in Trebbin geschlachtet. Ohne lange Transportwege. Die Tiere kennen sich, gehen entspannt auf die Schlachtbank. Das ist wichtig, denn eine schlechte Schlachtung ruiniert auch die beste Fleischqualität. Hier mussten die Kulmbacher Forscher zuletzt haarsträubende Missstände gerade bei Schweinen rügen. In industriellen Schlachthöfen werden die Tiere im Akkord oft schlecht gestochen. So landen sie manchmal noch lebend im Brühkessel.

Wer sich dennoch nicht den Appetit verderben lässt und in den Nischen ein gutes Fleisch entdeckt hat, der sollte beim Kochen die Tipps der Fachleute ausprobieren. Fleischforscher Branscheid hält das Nackenstück des Schweins, das häufig noch über die beste Marmorierung verfügt, für besonders interessant. Spitzenkoch Müller rät dazu, Koteletts auch einmal unzerteilt als Krustenbraten ins Rohr zu schieben. Schweinerücken – das Lendenstück – mag er besonders gern in der Salzkruste, zubereitet wie ein edler Wolfsbarsch. Schweinebauch köchelt Müller 20 Minuten in Wasser, schneidet dann die Schwarte ab und mariniert das Fleisch zwei Tage mit asiatischen oder provenzalischen Aromen. Dann etwas Wasser in den Bräter und das Bauchstück eineinhalb Stunden bei 130 Grad zartschmoren. „Grandios!“

Saalower Kräuterschwein und Havelländer Apfelschwein kann man über Havelland Express beziehen, www.havelland-home.de, Tel. 0800/2007500. Ibérico und märkisches Sattelschwein gibt es im Frischeparadies, Morsestr. 2 und Hermann-Blankenstein-Straße 48.

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