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Flüchtlinge in Berlin: Nach vorne

In Syrien zählen sie zur Bildungselite. Doch der Bürgerkrieg treibt sie in die Flucht. In Berlin angekommen, wollen sie vor allem eines: schnell Deutsch lernen und sich anpassen. Es ist ihr Weg, um zu vergessen, was hinter ihnen liegt – und dass sie Flüchtlinge sind.

Dann sagt er diesen paradoxen Satz. „Alles von Damaskus fehlt mir, sogar das Schlechte“, sagt Moussa, „sogar der Gestank der Dieselabgase von den Bussen.“ Nicht, dass er ausgerechnet die vermissen würde. Aber es sind nun mal die Erinnerungen an sein früheres Leben. Sein jetziges besteht nur noch aus zwölf Kilo Kleidung sowie 15 Kilo Material und Leinwänden. Moussa ist Maler und Bildhauer. Aber vor allem ist Moussa auf der Flucht.

Nun sitzt er, etwas über 30 Jahre alt, in einem weiß gestrichenen Büro am Schreibtisch. Seine schwarze Lederjacke, sein braunes Haar und seine großen braunen Augen passen nicht recht zu dem farblosen Interieur dieses Zimmers in Berlin-Moabit, Turmstraße. Moussa hat Glück gehabt. Jedenfalls bis hierher.

Im Frühjahr hatte Deutschland sich bereit erklärt, 5000 Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen, seit vergangenem Donnerstag ist klar, dass noch einmal 5000 mehr legal ins Land kommen dürfen. 10 000 also insgesamt, doch die Einreise erfolgt langsam und in kleinen Gruppen, erst etwa 1700 sind überhaupt da. Wie leben sie hier? Wo? Wie reagieren jene Syrer auf sie, die schon seit Jahrzehnten in Deutschland leben und Akademikerkarrieren gemacht haben? Und wer sind sie überhaupt, Männer wie Moussa?

Die Räume, in denen er sitzt, gehören einer Organisation, die Flüchtlingen hilft, sich in Berlin zu integrieren oder sich wenigstens nicht ganz verloren vorzukommen. Bevor er vor einem Monat nach Berlin kam, hat Moussa anderthalb Jahre in Beirut verbracht. Er habe gegen das Regime von Baschar al Assad gekämpft, sagt er, deshalb musste er fort. Die nächstgelegene Grenze war die zum Libanon. Doch auch in Beirut fühlte sich Moussa nicht wohl. „Eine sehr schöne, aber auch sehr harte Stadt“, sagt er. „Mein ganzes Leben war auf den Kopf gestellt. Der Libanon war für mich ein Ersatzland, aber nur kurz. Ich habe meinen Platz nicht gefunden.“

Der Libanon war nicht nur für Moussa eine Zwischenstation und erste Zuflucht – er ist es für viele Syrer. Seit Beginn des Konfliktes hat das Nachbarland, das selbst nur etwa drei Millionen Einwohner zählt, rund 1,3 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen. Die meisten von ihnen leben in Behelfslagern, es geht ihnen nicht gut.

Moussa beschloss, sich auf den Weg nach Deutschland zu machen. Deutschland war seine Hoffnung: erfolgreich, europäisch, fortschrittlich. Mit der Hilfe eines englischen Diplomaten gelang es ihm, bei der deutschen Botschaft einen Antrag auf politisches Asyl zu stellen. Nun sitzt er hier.

Untergekommen ist er in einem Wohnheim für Flüchtlinge, das möchte Moussa so schnell wie möglich verlassen, um eine Wohnung zu finden „und dann Deutsch zu lernen“, sagt er. „In Damaskus habe ich ein normales Leben geführt. In Beirut war ich mit Ungerechtigkeit und Unsicherheit konfrontiert. Ich konnte überhaupt keine Zukunftspläne machen.“ In der libanesischen Hauptstadt, erzählt er, habe er eine von Religion und Sekten beherrschte Gesellschaft kennengelernt. „Ich habe Angst, dass mein Syrien auch so werden könnte“, sagt er.

Kaum ein Mitglied seiner Familie ist in Syrien geblieben, ein Onkel lebe schon lange in Bayern, Freunde seien nach Frankreich, Ägypten und in die Vereinigten Arabischen Emirate geflohen.

Nach Deutschland einreisen darf längst nicht jeder syrische Flüchtling. Das Programm der Regierung bevorzugt Familien, Verletzte, Frauen in besonderer Notlage und religiöse Minderheiten, vorausgesetzt, dass diese Minderheit nicht aktiv am syrischen Bürgerkrieg beteiligt ist. In diesen Personenkreis sollen auch Männer und Frauen aufgenommen werden, die zum Wiederaufbau und zu der Entwicklung ihres Landes beitragen können, sobald wieder Stabilität eingekehrt ist.

Außerdem können Syrer, die schon lange in Deutschland leben, Verwandte aus Syrien aufnehmen. Die müssen allerdings die Bedingungen erfüllen, die für die Erteilung eines Schengen-Visums gelten. Und die „Gastfamilie“ muss über ein gewisses Mindesteinkommen verfügen, die Höhe variiert von Bundesland zu Bundesland.

Wer nicht unter diesen eng gefassten Personenkreis fällt, den Deutschland relativ unkompliziert willkommen heißt, versucht sein Glück auf illegalem Weg. Schätzungen zufolge leben derzeit mehr als 20 000 syrische Flüchtlinge im Land, die sich auf eigene Faust hierher durchschlugen und nun Asylanträge gestellt haben.

Sie kommen in oft lebensgefährlicher Fahrt auf Booten über das Mittelmeer nach Europa, oder mit Lastwagen aus der Türkei.

In dem Moabiter Büro erzählt auch Talal ein bisschen von seiner Geschichte. Er ist aus Georgien eingereist. An der deutschen Grenze sei er im Zug festgenommen worden. „Ich war ein paar Tage im Gefängnis. Danach habe ich mich um humanitäres Asyl bemüht“, sagt er. „In Syrien war ich Arzt. Ich hatte meine eigene Klinik. Hier fühle ich mich wie der letzte Dreck. Aber ich will Deutsch lernen. Wenn ich mein Leben in den nächsten fünf Jahren nicht neu aufgebaut habe, kehre ich nach Syrien zurück.“

Talal und Moussa stehen für die Bildungselite ihres Landes, die ihm den Rücken kehrt. Wer wie sie flüchtet, der verliert viel: sein Land, einen Teil seiner Identität, aber vor allem ist ein Flüchtling nicht mehr Arzt oder Lehrer. Er ist Flüchtling. Eine Erfahrung, die schmerzhaft ist und mit der einige besser umgehen können als andere.

Da ist zum Beispiel auch Maha, die mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in einer kleinen Wohnung in Charlottenburg wohnt. Sie hat sich gegen das vorübergehende Leben in einem Wohnheim entschieden – weil sie es sich leisten konnte. Und sie wählte einen Berliner Bezirk, in dem die arabische und türkische Bevölkerung nicht in der Mehrheit ist. „Ich will mich schnell integrieren und in der deutschen Gesellschaft leben“, sagt sie. Ihr neues Leben soll helfen, die Kriegsgräuel in Syrien und die Angst im Libanon schnell zu vergessen.

Maha verließ Damaskus bereits im Juli 2012, es fiel ihr sehr schwer. Sie entstammt der syrischen Mittelschicht, die sich aus Politik und Geschäften heraushält. „In Damaskus hatte ich eine Schule. Ich unterrichtete Arabisch für Ausländer, besonders für Deutsche. Ich habe selbst Deutschkurse besucht.“ Ihr Mann und sie glaubten, das Land würde sich mit Baschar al Assads Machtübernahme ökonomisch entwickeln. Stattdessen brach alles zusammen. Sie hat Grauenhaftes gesehen: die von der Armee auf ihren Stadtteil abgeworfenen Bomben, die in Folterzentren verschleppten Menschen.

Im Libanon hat sie Familie, das wäre ein Ausweg gewesen. „Meine Mutter ist schiitische Libanesin und meine Cousins, Cousinen, Tanten und Onkel unterstützen die Hisbollah. Ich bin Sunnitin und aus Syrien geflohen, deshalb meinen sie, dass ich gegen das Regime bin“, erklärt sie. Geholfen hat ihr niemand, manche Cousins wollten nicht einmal etwas mit ihr zu tun haben.

Ihre Diplomatenfreunde halfen ihr schließlich, ein Visum zu bekommen. In Deutschland angekommen, beantragte sie für sich und ihre Kinder Asyl – und sie mietete die Wohnung, in der sie nun auch ihren Besuch empfängt. Wie um sich zu entschuldigen, sagt sie: „Das ist eine kleine Wohnung, aber mehr kann ich mir nicht leisten. In Syrien war ich nicht reich, aber ich hatte eine große Wohnung, ein Auto, alle Haushaltsgeräte. Ich habe gut gelebt und hätte nie geglaubt, dass das alles eines Tages zusammenbrechen würde.“ Nun hält sie sich mit Ersparnissen über Wasser.

Nur ihr Mann fehlte noch. Er erreichte den Libanon, als Maha mit ihren Kindern längst weitergezogen war. Und auch er wollte nichts als wieder fort. „Im Libanon gibt es keinen Platz für Syrer. Alles ist teuer, und man findet keine Arbeit“, sagt Imad, der gelernter Koch ist.

Maha bietet ihren Besuchern voll Stolz einen Bananen-Schokoladen-Kuchen an, das deutsche Rezept hat sie zum ersten Mal ausprobiert; dazu gibt es Apfelsaft, aber auch Kaffee mit Kardamom.

Ihre wichtigste Aufgabe seit der Ankunft im Land ist für sie die Integration ihrer Kinder, fünf bis zwölf Jahre alt. Ihr Sohn erlitt einen Schock, als die Nachbarn gegenüber ums Leben kamen, und sprach monatelang kein Wort mehr. Heute stottert er. Eine deutsche Logopädin wird ihm nun helfen. „Der Kleinste geht in den Kindergarten, die beiden Älteren in die Schule. Sie haben deutsche Freunde gefunden. Sie haben aber auch sehr schnell Deutsch gelernt. In Damaskus waren sie Klassenbeste. Hier wurden sie eine Klasse tiefer eingestuft, und sobald sie eingeschult waren, habe ich einen Privatlehrer engagiert, mit dem sie jeden Tag nach der Schule drei Stunden Deutsch lernen“, erzählt sie.

Mahas Mutter und Schwester sind von Damaskus in die Schweiz gegangen. Derzeit wohnen sie in einer Flüchtlingsunterkunft. „Meine ganze engere Familie hat Syrien verlassen. Die Familie meines Mannes wohnt nicht mehr in Damaskus. Unsere Häuser wurden zerstört“, sagt sie. Obwohl Maha erst 40 Jahre alt ist, kommt es ihr vor, als ob sie bereits ein Leben gelebt habe.

„Ich fange noch mal bei null an, ich will eine Ausbildung machen. Ich werde einen Beruf finden. Ich werde überleben“, sagt sie. Das Wichtigste sei, dass ihren Kinder die Zukunft offenstehe, dass sie später eine qualifizierte Berufsausbildung machten. „Dann können wir nach Syrien zurückkehren und alles wieder aufbauen.“

Ihr Mann Imad denkt zwar wie sie, findet aber härtere Worte. „Hier zähle ich nicht. Ich fühle mich, als ob ich nicht existieren würde“, sagt er.

Potsdamer Straße, Berlin-Tiergarten. Nach einem langen Arbeitstag sitzen Youssef und Shlémon in einem orientalischen Café. Hier spielt ununterbrochen die Musik des syrischen Sängers Georges Wassouf, man raucht Wasserpfeife und trinkt Arak, ein alkoholisches Getränk aus Trauben und Anis. Youssef und Shlémon stammen aus der nordöstlichen Region Kamoshli, von den Syrern traditionell Al Dschasira genannt. Sie sind Christen, sieben Prozent der Bevölkerung gehören ihrer Religionsgemeinschaft an.

Youssef lebt seit 17 Jahren in Berlin und hat Philosophie studiert, er ist Journalist und arbeitet für das arabischsprachige Programm der Deutschen Welle. Shlémon, seit 39 Jahren in Deutschland, ist Ingenieur. Natürlich arbeitet er in seinem Beruf, wird aber wegen seiner Kontakte zu Ausländern auch von verschiedenen deutschen Organisationen gebeten, Integrationskurse zu geben. Beide haben in Deutschland studiert. Beide wollten nach dem Examen in ihre Heimat zurückkehren. Beide sind in Deutschland geblieben, haben sich hier ihr Leben aufgebaut und sich angepasst. Shlémon berichtet: „Vor den Ereignissen war ich fast jeden Sommer in Syrien, meistens mit meiner Frau und den Kindern. Drei Mal bin ich direkt nach meiner Ankunft verhaftet worden. Die Polizei hat mich nach ein paar Tagen freigelassen und gesagt, es würde sich um eine Namensverwechslung handeln.“

Die Ereignisse. Shlémon und Youssef schmerzt der Gedanke an die Heimat. Es ist ein Schmerz am Morgen, der vergeht. Er wird wahrscheinlich auch den Maler Moussa, den Arzt Talal und die Sprachlehrerin Maha ereilen eines fernen Tages, wenn sie in Deutschland geblieben sein werden. Vielleicht werden auch sie dann ihre Urlaube in Syrien verbringen. Und wenn sie sich einsam oder traurig fühlen, werden sie die Chansons von George Wassouf hören und Wasserpfeife rauchen.

Die Autorin arbeitet als Reporterin für die libanesische Zeitung „L’Orient Le Jour“. Sie ist durch einen Journalistenaustausch mehrere Monate in Berlin. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

Patricia Khoder

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