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Indien-Kult im Nationalsozialismus: Yoga unterm Hakenkreuz

Der Reichsführer-SS will die Vernichtung der Juden – und beruhigt sein Gewissen mit alten indischen Versen. Heinrich Himmler ist nicht der einzige Nazi, für den 1942 Yoga wichtig wird.

Bevor Heinrich Himmler am 9. August 1942, einem Sonntag, zum Essen bei Adolf Hitler aufbrach, empfing er Punkt 9 Uhr im Büro seines Hauptquartiers eine andere wichtige Bezugsperson: den Massagetherapeuten Felix Kersten. Dieser korpulente Mann, zwei Jahre älter als Himmler, galt seit Mitte der 1920er Jahre bei Adligen und Politikern in Deutschland „als magischer Buddha, der durch Massage alles heilt“. Seine Technik hatte Kersten von dem chinesischen Mediziner Dr. Ko erworben, und wenn der Reichsführer-SS mit entblößtem Oberkörper vor ihm lag, waren es vor allem dessen Krämpfe und Bauchschmerzen, die Kersten lindern sollte. Dabei führten sie auch vertrauliche Gespräche, von denen der Masseur manche in seinem Tagebuch niederschrieb und die überraschende, bis heute wenig bekannte Seiten Himmlers dokumentieren – zum Beispiel seine Vorliebe für eine alte indische Schrift.

Allein für das Jahr 1942 finden sich im Dienstkalender Himmlers 70 Behandlungstermine durch Felix Kersten. Oft steht er auf dem Tagesplan an erster Stelle: Für 8.30 Uhr oder 9 Uhr lautet der Eintrag in der Regel schlicht „Kersten“ oder „Herr Kersten“. Himmler räumte den Begegnungen mit dem Therapeuten zumeist auch viel Zeit ein – die nachfolgenden Termine waren dann erst mittags angesetzt.

Bei ihren Treffen hatte Himmler auch die ins Deutsche übersetzte Ausgabe der Bhagavad Gita dabei, eine der grundlegenden Schriften des Hinduismus, die zwischen 400 vor und 400 nach Christus entstand. Himmler trug sie stets bei sich. Da die von ihm benutzte Ausgabe nicht größer als eine Postkarte war und lediglich 142 Seiten umfasste, passte sie in die Jackentasche seiner schwarzen SS-Uniform.

Im Gespräch mit Therapeut Kersten offenbarte der Reichsführer-SS seine Faszination für das vierte Kapitel mit der Überschrift: „Dschnjana Yoga – Das Buch von der religiösen Erkenntnis“. Eine Passage daraus sollte Kersten abschreiben: „Zum Schutz der Guten, aber zum Verderben der Bösen, komm ich mitten unter sie, den Weg zu lehren, der zum Heil führt.“ Und weiter: „Doch kann mein Werk mich nimmer mehr beflecken, ich hege kein Verlangen nach Gewinn.“ Dass sein Werk ihn nicht beflecken kann und er „zum Verderben der Bösen“ seine Pflicht tat, war Balsam für Himmlers Seele. Die in der Bhagavad Gita propagierte Kriegerethik kam ihm, der als einer der Hauptverantwortlichen für den Holocaust und millionenfache Gräueltaten in die Geschichte eingehen wird, sehr gelegen.

Mit den Bodenturnübungen auf den rutschfesten Latexmatten von heute haben die Anfänge des Yoga in Deutschland wenig gemein. Vielmehr standen mit Beginn des 19. Jahrhunderts Yoga-Philosophie und Übersetzungen von 500 bis 2000 Jahre alten Schriften im Fokus des Interesses namhafter deutscher Philosophen wie Friedrich Schelling und Arthur Schopenhauer. Schelling definierte Yoga bereits Mitte des 19. Jahrhunderts klar und zutreffend als Innigkeit, Einheit und Einigkeit. Schopenhauer schwärmte von den indischen Upanishaden, einer Sammlung philosophischer Schriften des Hinduismus, die für ihn die „belohnendeste und erhebendeste Lektüre“ waren und womit „der Geist rein gewaschen wird von allem ihm früh eingeimpften jüdischen Aberglauben“. Zur Wertschätzung für die Weltsicht der Arier in den klassischen indischen Schriften gesellte sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine Abwertung des semitischen und des christlichen Weltbildes.

Zunächst blieben die Ausführungen und Diskurse zum Yoga den Philosophen und einem Teil des Bildungsbürgertums vorbehalten. Erst durch die massenhaft verbreiteten Schriften der Theosophen um Madam Blavatzky und Franz Hartmann Ende des 19. Jahrhunderts fanden Yoga-Lehrer ein größeres Publikum. Dies geschah vor allem durch die von der Theosophie geprägte Lebensreform- und Neugeistbewegung.

Einen ersten Boom verschiedener Arten von Yoga gab es während der Weimarer Republik. Broschüren und Bücher erschienen in hohen Auflagen, und in Anzeigen wurde für Yoga-Kurse geworben. Solche regelmäßigen Kurse gab es beispielsweise am Dorotheenstädtischen Gymnasium in der Dorotheenstraße in Berlin-Mitte. Unter „Yoga-Praxis“ wurde zu jener Zeit noch das Sitzen in der Stille, das Ausrichten der Gedanken auf positive Werte und das Tönen von Silben verstanden.

Die erste Yoga-Schule in Deutschland etablierte 1937 der aus dem ukrainischen Zhemerinka stammende Boris Sacharow mitten in Berlin – zunächst in der Humboldtstraße, ab Mitte der 30er Jahre in der Treuchlinger Straße. Neben seinen Kursen verschickte er ab Mitte der 30er Jahre Lehrbriefe in 50 deutsche Städte. Sacharow unterrichtete bereits ab Mitte der 20er Jahre in Berlin den Yoga des nordindischen Arztes Sivananda, parallel zu seinem Studium der Elektrotechnik an der TU. Zu seinen damaligen Schülern gehörten unter anderem der Nervenarzt und Begründer des Autogenen Trainings Johannes Schultz sowie Luise Hennig, die Privatsekretärin von Komponist Siegfried Wagner – der, von seiner Sekretärin angeregt, selbst eine zeitlang Yoga übte, bis ihm seine Frau Winifred die Übungen untersagte.

Anders als Sacharow konnte der Tübinger Religionswissenschaftler und Yogaforscher Jakob Wilhelm Hauer mit dem nun auch im Westen zunehmend populären Hatha-Yoga, bei dem Körper- und Atemübungen im Mittelpunkt stehen, nichts anfangen. Sein Bezug zum Yoga war der akademische Diskurs. Möglicherweise war es Jakob Wilhelm Hauer, der Heinrich Himmler für die Bhagavad Gita begeisterte. Der einflussreiche Gelehrte, auf dessen Werke noch heute Bezug genommen wird, machte Yoga mit seinen Schriften und in Vorträgen, unter anderem in der Berliner Lessing-Hochschule in der Keithstraße, kompatibel zur Ideologie des Nationalsozialismus. Seine Veröffentlichung zur Bhagavad Gita aus dem Jahr 1934 nannte er programmatisch „Eine indoarische Metaphysik des Kampfes und der Tat“. Darin führt er etwa aus: „Es ist bezeichnend für indogermanisches Seelentum, daß gerade an dem Widerstreit von Kriegerpflicht und Liebe zum eigenen Blut der Pflichtenkonflikt des Lebens gestaltet wird.“

Hauer war SS-Hauptsturmführer und Mitglied des Sicherheitsdienstes der SS, er verfügte über gute Kontakte zu Himmler, aber auch zu SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich sowie Alfred Rosenberg, dem führenden Ideologen der NSDAP und Leiter des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete, der sich ebenfalls durch hinduistische Schriften inspirieren ließ. Diese Kontakte nutzte Hauer stets zu seinem Vorteil, und er denunzierte unliebsame Kollegen wie den Gründer der Anthroposophie Rudolf Steiner. In mehreren Schreiben beschwerte er sich etwa darüber, dass noch immer Werke Steiners in Buchläden im Schaufenster lägen.

Es könnte aber auch der italienische Kulturphilosoph Julius Evola gewesen sein, der Himmler den entscheidenden Impuls gab, sich der Bhagavad Gita anzunehmen. Fakt ist, dass Evola im Juni 1938 in den Räumen der Deutsch-Italienischen Gesellschaft in der Uhlandstraße 171/172 einen Vortrag in Anwesenheit mehrerer SS-Offiziere über die „Arische Lehre des heiligen Kampfes“ hielt. Darin heißt es in Bezug auf die Bhagavad Gita: „Das Mitleid, das den Krieger Arjuna davon abhält, gegen den Feind ins Feld zu ziehen, wird von dem Gott Feigheit, unwürdig eines Edlen und vom Himmel entfernend“ genannt. Die Verheißung lautet: „Getötet, – wirst Du das Paradies haben, siegreich, – wirst Du die Erde haben. Deshalb stehe entschlossen auf zur Schlacht.“ Himmler nahm dies interessiert und wohlwollend zur Kenntnis, wie aus einem Brief vom Persönlichen Stab des Reichsführers-SS an das Ahnenerbe e. V. hervorgeht.

Im besagten vierten Kapitel fand Himmler Verse, die seine Grausamkeiten, seine Befehle zum Massenmord legitimierten. Seine SS-Totenkopfverbände, die er als spirituellen Orden geformt hatte, sollten so „kühl und nüchtern“ und letztlich gewissenlos handeln, wie es der Gott Krishna in der Bhagavad Gita dem am Sinn des Krieges zweifelnden Krieger Arjuna nahelegt. Bereits 1925 hatte Himmler notiert: „Kshatriya-Kaste, das müssen wir sein. Das ist die Rettung.“

Die geistige Ausrichtung der SS im Sinne einer Kriegerkaste lag Himmler sehr am Herzen. In seinen nunmehr bekannten und veröffentlichten „Geheimreden“ kam er immer wieder darauf zu sprechen. Da ist vom „heiligen Feuer und heiliger Pflichterfüllung“ die Rede, von den „höheren menschlichen Werten“ und von der Ausrottung der Juden, „ohne einen Schaden an Geist und Seele erlitten“ zu haben. Mehrfach betont Himmler, dass seine „anständigen SS-Männer (...) in ihrer Anständigkeit bereitwillig und opferwillig ihren Dienst gemacht haben“. Ihm gehe es vor allem um die „weltanschauliche und überzeugungsmäßige Erfüllung der Herzen“. Wie aus den Gesprächsmitschriften des Therapeuten Felix Kersten hervorgeht, plagten Himmler wegen der von ihm erteilten Befehle zuweilen Gewissensbisse. Die Bhagavad Gita half ihm darüber hinweg.

1942 formulierte der Reichsführer-SS auch seine Vorstellung, was nach dem Krieg geschehen solle. Während Kersten seinen Bauch massierte, scherzte Himmler, wie sich die Nazi-Führungselite wohl ausnehmen würde, wenn NS-Männern wie dem NSDAP-Reichsleiter Robert Ley und dem Reichsminister des Auswärtigen Amtes Joachim von Ribbentrop „in der Klausur saure Milch und Schwarzbrot als körperliche und die Bhagavad Gita als seelische Nahrung und Meditationsobjekt vorgelegt würden“.

Bis heute wird unter Historikern über die Aussagen des Therapeuten Kersten nach Kriegsende gestritten, wonach dieser seinen Patienten mehrfach davon überzeugt habe, internierte Juden oder politische Gefangene frei zu lassen. Kritiker sagen, diese Behauptungen seien stark übertrieben.

Gemessen an der 5000 Jahre umfassenden Geschichte des Yoga und selbst im Vergleich zu den 200 Jahren Yoga-Entwicklung in Deutschland, nimmt die Verknüpfung von Teilaspekten des Yoga mit der Ideologie des Nationalsozialismus einen geringen Raum ein. Doch die zwölf Jahre nationalsozialistischer Schreckensherrschaft haben zugleich gezeigt, dass auch der wohltuende und entspannende Yoga nicht gefeit ist vor Indoktrination und Plädoyers für Gewalt. Für diese Schattenseite des äußerst anpassungsfähigen Yoga gibt es Beispiele aus jüngster Vergangenheit.

So gab es noch Ende der 90er Jahre einen Fall, bei dem deutschen Teilnehmern an Ausbildungskursen zum Yoga-Lehrer seitens der Referentin gesagt wurde, man müsste nur lange genug meditieren, um anzuerkennen, dass es das Karma der Juden war, vernichtet zu werden und aus der Perspektive des Yoga könnten wir weder den Holocaust noch die Massaker in Bosnien als gut oder schlecht bewerten.

2002 kam es im indischen Bundesstaat Gujarat, wo in den Schulbüchern Hitler als großartiger Staatslenker gefeiert wird, zu Pogromen gegenüber der muslimischen Bevölkerung. Mehr als 2000 Menschen fielen dem wütenden Mob zum Opfer. Legitimiert wurde dies von spirituellen Führern mit Verweis auf die heiligen Schriften der Hindus.

All dies ändert nichts an der Feststellung, dass Yoga guttut und entspannt. Da aber Yoga aus Indien stammt und im Westen häufig verknüpft wird mit Aspekten indischer Kultur und Religion, ist es alarmierend, dass sechs von zehn indischen Studenten den Namen Adolf Hitler nennen, wenn sie gefragt werden, welchen Menschen sie am meisten bewundern. Das ergab vor kurzem eine Umfrage im St. Stephen’s College in Neu-Delhi, einem der Elite Colleges Indiens.

Der Autor hat zum Thema das Buch „Yoga im Nationalsozialismus“ (Ludwig- Verlag) verfasst. Freitag sendet der Deutschlandfunk ein Feature, das sich mit Himmlers Verhältnis zu Kersten beschäftigt.

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