zum Hauptinhalt

Münchner S-Bahn-Mord: Der Held muss Held bleiben

Er ist der "Held von Solln". Dominik Brunner, der Kinder beschützen wollte und dafür starb. Doch das Heldenbild wird Freunden und Familie unheimlich. Ab Dienstag stehen zwei Jugendliche als seine Mörder vor Gericht.

Zwei Kämpfer stehen sich gegenüber, die Oberkörper entblößt, die Muskeln angespannt, über die Brust rinnt Schweiß. Plötzlich springt einer nach vorne und, zack, sitzt der Kinnhaken. Es ist Samstagabend, es ist „Steko’s Fight Night“. Wenn die Faust auf den Körper trifft, klingt es dumpf, manchmal stöhnt ein Kämpfer, wenn er einen Schlag setzt.

An die 3000 Zuschauer sind in die Münchner Zenith-Halle gekommen und still jetzt. Sie schauen nach vorne, wo dem einen Blut aus der Nase rinnt und der andere taumelt. Nach zwei Minuten ist alles vorbei. Der Ringrichter reißt den Arm eines Boxers nach oben. Die Lichtanlage setzt ein und schenkt dem Sieger Blau und Rot.

Manchmal saß hier auch Dominik Brunner im Publikum. Aber das soll man eigentlich nicht schreiben. Kickboxen hat keinen guten Ruf, klingt nach Milieu und brachialer Gewalt. Wer Dominik Brunner damit in Zusammenhang bringt, verleumdet ihn, sagen seine Freunde und seine Nachlassverwalter. Denn Dominik Brunner ist der „Held von Solln“.

Brunner wurde 50 Jahre alt. Am 12. September 2009 wurde er erschlagen, weil er Kinder beschützen wollte. Er hatte sie in der Münchner S-Bahn gegen die Pöbeleien von Markus Sch. und Sebastian L. verteidigt. An der Endhaltestelle in Solln prügelten und traten die beiden Jugendlichen auf ihn ein, bis er auf dem Bahnsteig zusammenbrach, und ließen auch danach nicht von ihm ab. Am morgigen Dienstag beginnt in München der Prozess gegen die 17- und 18-jährigen Schläger. Sie sind wegen Mordes angeklagt.

Alle Zeitungen, Fernseh- und Radiostationen berichteten und zeigten Brunners Foto: ein freundlich lächelnder Mann mit kurzen dunklen Haaren, randloser Brille und Nadelstreifenanzug. Tausende demonstrierten in seinem Namen für Zivilcourage, Ministerpräsident Seehofer verlieh ihm posthum den Bayerischen Verdienstorden, der Bundespräsident das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse.

Aber woher nahm ausgerechnet Dominik Brunner den Mut einzuschreiten, wo so viele wegsahen? Was hat ihn geprägt, und hat sein Einsatz etwas mit seinem Interesse am Kickboxen zu tun? Was macht einen Helden zum Helden?

„Er war ein Mensch mit Werten und Überzeugungen, für die er sich immer und ausnahmslos eingesetzt hat“, so steht es auf der Internetseite der „Dominik Brunner Stiftung für Zivilcourage“. Sie wurde im November gegründet von Brunners Vater sowie dem Vater seiner Lebensgefährtin, Brunners oberstem Chef und wichtigen Kollegen. Sie müssen wissen, wer Dominik Brunner war.

Die Stiftungsgründer wohnen und arbeiten fast alle in Neufahrn und Ergoldsbach, zwei Nachbardörfer in Niederbayern, eine Zugstunde nordöstlich von München entfernt. Hier wellt sich die Landschaft zum Goldbachtal hinab, entlang einer befahrenen Bundesstraße reihen sich Ortschaften lose aneinander, umgeben von Feldern, Weiden und Wäldern. In Neufahrn streckt sich das Werksgelände der Erlus AG die Hügel hinauf. Erlus ist ein mittelständisches Unternehmen und einer der Großen auf dem Markt für Baustoffe und Dachziegel. Dominik Brunners Vater hat über viele Jahre die Geschäfte geführt, sein Sohn folgte ihm nach in die Firma und war Vorstand für Recht, Personal und Finanzen. Im Eingangsfoyer von Erlus wirbt sein Foto für die nach ihm benannte Stiftung.

Die freundliche Dame am Empfang drückt Besuchern gerne den Lebenslauf von Dominik Brunner in die Hand. Mehr gibt es nicht zu sagen, stellt der Stiftungssprecher klar. Aus dem inneren Kreis der Stiftung sei niemand zu sprechen und man wolle erst recht keine persönlichen Fragen beantworten.

Anfang Februar hatten Zeitungen berichtet, der Fahrer der S-Bahn habe ausgesagt, dass Dominik Brunner auf dem Bahnsteig als Erster zugeschlagen habe. Auch machten Gerüchte die Runde, Brunner sei „erfahrener“ Boxer. Ein Freund des Opfers stellte einige Tage später klar: Brunner sei „nie aggressiv, cholerisch oder gewaltbereit gewesen“, sondern habe stets ausgleichend sein wollen. Brunner sei in den 90er Jahren maximal ein Jahr lang zum Training im Boxclub Straubing gewesen und habe das Training aufgegeben, als immer mehr junge Männer aufgetaucht seien, um zu lernen wie man sich prügelt.

Der Held muss Held bleiben. Aber hat nicht jeder Mensch auch Schwächen?

„Wenn die Offiziellen nichts sagen wollen, dann will ich das auch nicht“, sagt Franz Zellner, ein Schulfreund von Brunner in Ergoldsbach. „Sonst heißt es: warum hast du dich vorgedrängt?“ Am Ende werden die Schläger freigesprochen, sagt Zellner, so laufe es doch immer.

„Hier reden die Leute halt nicht gerne“, sagt Bürgermeister Ludwig Robold in seinem Rathausbüro an der Hauptstraße. Es klingt gequält, er will höflich sein, aber eigentlich auch nichts sagen. Robold ist gelernter Kaminkehrer und seit zwei Jahren im Amt der 7000-Einwohnergemeinde, in der es 50 Vereine gibt. Der „Nick“, wie Dominik Brunner hier genannt wurde, sei sehr verwurzelt gewesen, auch wenn er sich im Vereinsleben nicht so engagiert habe, sagt Robold. Er sei auch sehr sozial gewesen und vor allem „nie hochgestochen“, obwohl er doch aus einer so wohlhabenden Familie stamme. Im Mai vergangenen Jahres habe er seinen 50. Geburtstag mit einem großen Fest im Garten vor seinem Haus in Ergoldsbach gefeiert. 200 Gäste seien geladen gewesen. Er habe sich sehr gefreut über die Einladung, und man merkt dem Bürgermeister an, dass er auch ein bisschen stolz war, dazuzugehören. „Man hat einen schönen Abend gefeiert, aber bittschön, das sind jetzt Privatsachen“, sagt Robold und muss dann wirklich los.

Hinter dem Ergoldsbacher Bahnhof den Hügel hinauf steht eine der alten Fabrikationshallen von Erlus. Hundert Meter seitlich liegt ein Grundstück, das von einer hohen Mauer umgeben ist. Hinter dem schmiedeeisernen Tor führt ein Kiesweg in einen Park und verliert sich zwischen hohen Tannen. Man kann die Umrisse eines Hauses erkennen: die Fabrikantenvilla. Hier leben die Brunners seit vielen Jahren, hier ist Dominik aufgewachsen.

Oskar Brunner hat Erlus groß gemacht und verfolgt auch mit 79 Jahren die Geschäfte im Aufsichtsrat. Dominik war das einziges Kind – und „eher ein mittelmäßiger Jurist“, wie einer sagt, der ihn von seiner Zeit als Anwalt kannte. „Aber Mittelmaß geht nicht in einem Dorf in Niederbayern, wenn der Vater exzellent ist.“

Vielleicht hat der Sohn deshalb nach dem Studium das Weite gesucht und als Anwalt in San Francisco und Paris gearbeitet. Vielleicht auch deshalb nach seiner Rückkehr in die Heimat zwei, drei Jahre im Boxclub trainiert.

Auf derselben Hügelkuppe wie die Villa der Brunners, aber etwas weiter vorne, dem Tal zugewandt, steht ein frisch geweißtes Haus mit grünen Fensterläden. Am Briefkasten steht noch der Name des Bewohners: Dominik Brunner. Das Haus ist von allen Seiten einsehbar, kein Baum und keine hohe Mauer nehmen die Sicht. Hier wohnte ein Mensch, der sich nicht zurückziehen wollte hinter hohe Tannen, sondern dazugehören.

„Die Medien haben ihn auf diesen Sockel gestellt, auf einmal war er der ,Held von Solln’“, sagt Harald Bardenhagen, ein Kuratoriumsmitglied der Brunner-Stiftung. Die ganze Überhöhung und Heroisierung ist ihm unheimlich. Sie von der Stiftung hätten das gar nicht gewollt und auch nicht befördert. Aber nun, da es so sei, wie soll man ihn vom Sockel holen, ohne dass der Name, dass die ganze Sache beschädigt wird? Deshalb habe man schon ein bisschen Sorge vor den Schlagzeilen aus Anlass des Prozesses.

Harald Bardenhagen ist als Einziger bereit zu reden. Er steht im Konferenzraum seiner weitläufigen Anwaltskanzlei und zeigt auf die Münchner Oper gegenüber. Bardenhagen, 58 Jahre alt, dunkelgrauer Anzug, goldene Manschettenknöpfe, ist ein Freund der klassischen Musik. Wenn er wie jetzt für die Brunner-Stiftung ein großes Benefizkonzert im Gasteig auf die Beine stellt, ruft er seine Freunde an, Dirigenten, Sänger, Festivalchefs, schon läuft das. Mit Uli Hoeneß im Kuratorium, mit Münchens Oberbürgermeister Christian Ude und anderen prominenten Unterstützern könne man richtig viel bewirken – und alles im Namen von Dominik Brunner. Den kannte er, weil er Erlus als Anwalt berät. Brunner sei ein „anständiger“ Mensch gewesen, der in Verhandlungen darauf geachtet habe, dass auch die andere Seite das Gesicht wahren könne, bei einem Geschäft sei für ihn die Qualität des Produkts wichtig gewesen und nicht nur, wie viel Geld herausspringt. Ob Brunner Kickboxen trainiert habe, wisse er nicht, sagt Bardenhagen. „Und wenn, warum nicht?“

Zenith-Halle München, bei „Steko’s Fight Night“ geht es auf Mitternacht zu, jetzt kämpfen zwei Frauen gegeneinander. Sie haben zarte, schmale Gesichter, eine ist blond, die andere dunkelhaarig. Wie Bögen sind ihre Körper gespannt und bewegen sich doch geschmeidiger als die der Männer, vor und zurück, vor und zurück, und, zack, wieder klatscht ein Treffer mitten ins Gesicht. Bei einem Schlag knackt es leise in einem der Boxhandschuhe. Ein Auge ist dicker jetzt als vor 20 Minuten. Die Kämpferin schüttelt sich kurz, schnellt zum Gegenangriff nach vorne und knallt der Gegnerin eine Kombination aus Faustschlägen auf Kopf und Brust. Macht es den Helden zu einem, der mit schuld ist an seinem Tod, weil er solchen Kämpfen hier zugeschaut hat?

In einer Wettkampfpause erzählt Mladen Steko von seinem Sportclub in München. Bei ihm trainieren Studenten, Angestellte, Manager von BMW und Renault, Männer und Frauen. „Die meisten wollen beruflichen Stress abbauen“, sagt Mladen Steko. Ja, auch Dominik Brunner habe ein paar Probestunden genommen, er sei aber Anfänger geblieben. „Vielleicht hat jemand, der schon mal eine Boxstunde genommen hat, ein anderes Auftreten“, sagt Steko. „Vielleicht traut sich so jemand eher, den Mund aufzumachen, wenn Unrecht geschieht, weil er keine Angst hat, einen Schlag abzukriegen.“ Zu den Fight Nights sei Brunner vor allem deshalb gekommen, weil ein Mitarbeiter der Erlus AG Profi-Boxer ist und von der Firma gesponsert wird. Es gibt sogar Fotos, die Brunner, den Finanzier, mit Dominik Haselbeck nach einem Sieg zeigen.

Auch Haselbeck gehört zu den Personen aus Brunners Umfeld, die jetzt nicht mehr öffentlich über ihn sprechen wollen. Erlus sei das nicht recht, sagt er, und er sei auf die Unterstützung der Firma angewiesen.

Im Prozess gegen die beiden Jugendlichen wird die Verteidigung zeigen wollen, dass Dominik Brunner nicht der lupenreine Held war, zu dem er nach seinem Tod gemacht wurde. Vielleicht hat er sich überschätzt, vielleicht hätte er auf Hilfe warten sollen. Es lief nicht nach Plan. Oberbürgermeister Ude mahnte vor kurzem, man solle den Begriff Zivilcourage von seinem „heroischen Anspruch befreien“, um mehr Menschen zu ermutigen, eben diese Zivilcourage zu zeigen. „Hätten sich noch ein paar mehr eingemischt, würde Brunner noch leben“, mutmaßt Boxtrainer Mladen Steko.

Oben im Ring läutet der Ringrichter die letzte Runde ein. Nach zehn Minuten steht die Siegerin fest. „Doktor Christine Theiss“, ruft der Ringrichter. Theiss ist 30 Jahre alt, Ärztin und amtierende Kickbox-Weltmeisterin. Für ihre sportlichen Leistungen und ihr soziales Engagement wurde sie mit dem Bayerischen Staatspreis ausgezeichnet.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false