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Frauen und Männer: Und es gibt ihn doch!

Darf man Kindern die Wahrheit über den Weihnachtsmann verraten – oder nicht? In unserer Geschichte steckt die Antwort hinter einer Tapete.

In dem Jahr, in dem das Wunder passierte, war es vor Weihnachten noch ein bisschen hektischer als üblich. Tobias hatte sich vorgenommen, vor den Feiertagen das Kinderzimmer zu tapezieren. Raufaser, das ging irgendwie nicht mehr, Motivtapeten waren wieder im Kommen. Dezente Motivtapeten. Also stand er, zusätzlich zu all den anderen Sachen, die zu erledigen waren, in jeder freien Minute in Charlottes Zimmer und kratzte mit dem Spachtel die alte Raufaser ab, unter der noch drei oder vier ältere Schichten klebten, die ihm einen Widerstand leisteten, als seien sie die Leibgarde von Osama Bin Laden. Charlotte schlief im Gästezimmer.

Eine Wahnsinnsidee, er verfluchte den Tag, an dem er sie gehabt hatte. Aber wenn man erst mal angefangen hat, muss man es zu Ende bringen.

Wie in jedem Jahr seit der Geburt ihrer Tochter stritten sich Tobias und Sina über den Weihnachtsmann. Nein, „Streit“ war ein zu dramatisches Wort, im Grunde war es eine lästige Meinungsverschiedenheit, darüber, ob sie Charlotte den Glauben an den Weihnachtsmann gestatten sollten oder nicht.

Darf man Kinder anlügen? Auf diese Frage lief es letztlich hinaus.

Tobias argumentierte mit den Märchen und den Sagen. Märchen, das gehörte zur Kindheit doch irgendwie dazu, das hatte bestimmt einen Sinn, psychologisch gesehen, und ihnen beiden hätte der Weihnachtsmann doch auch nicht geschadet. An Erziehungsfragen ging er pragmatisch heran, vielleicht war er auch einfach nur bequem. Sina betrachtete diese Dinge grundsätzlicher. Nimmt man Kinder ernst, sind sie vollwertige Menschen oder nicht? Und was richtet es in einer Kinderseele an, wenn das Kind eines Tages bemerkt, dass seine Eltern es in puncto Weihnachtsmann belogen haben?

Wenn Charlotte nach dem Weihnachtsmann fragte, brummelte Tobias meistens etwas vage Zustimmendes. Ja, irgendwo da draußen rennt er wohl herum, der alte Herr mit seinem Schlitten. Hüah, ihr Rentiere, hüah. Sina schwieg. Seine Position wurde langsam unhaltbar, das wusste er. Charlotte ging jetzt in die Schule und feierte im März immerhin schon den siebten Geburtstag. Und seine Eltern drängelten auch, die wollten, dass Charlotte ihre Geschenke, die meistens großzügig waren, endlich der Oma und dem Opa zuordneten und nicht dem Weihnachtsmann. Dabei hatten die doch selber angefangen damit, Weihnachtsmann hier, Weihnachtsmann dort, nur deswegen hielt Sina bei Charlotte überhaupt den Mund, weil sie Oma und Opa nicht total unglaubwürdig erscheinen lassen wollte. Auch eine unglaubwürdige Oma war nicht gut für die Kinderseele. Und jetzt wollten Oma und Opa die Konsequenzen ihrer eigenen Geschichten nicht wahrhaben. Aus Egoismus. So sah Tobias das. Die gönnten dem Weihnachtsmann nicht Charlottes Dankbarkeit und Charlottes strahlende Augen.

Kurz vor den Ferien passierte es dann. Als Tobias seine Tochter abends aus dem Schülerladen abholte, merkte er sofort, dass etwas nicht stimmte. Charlotte rückte erst nach einer Weile damit heraus. Sie hatten in der Schule über den Weihnachtsmann gesprochen. In der Klasse gab es drei Gruppen, die eine glaubte, die andere glaubte nicht, die dritte Gruppe war muslimisch und verstand nicht, wo das Problem lag. Also fragten sie ihre Lehrerin. Und die Lehrerin hatte ihnen tatsächlich erzählt, dass der Weihnachtsmann nicht existiert.

Die Gruppe der gläubigen Kinder, zu denen Charlotte gehörte, war niedergeschlagen. Einige Kinder wurden rebellisch, sie hatten von ihren Eltern das eine gehört, von der Lehrerin jetzt etwas anderes, und sie hielten zu ihren Eltern. Im Fernsehen und in der Fußgängerzone hatten sie den Weihnachtsmann schon hundert Mal gesehen, war die Lehrerin blind? Richtig schlimm wurde es wohl in der Pause. Die Siegergruppe spottete und hänselte über die Verlierergruppe, einige Kinder weinten, darunter auch Charlotte.

Tobias fand das nicht in Ordnung. Er wusste aber auch nicht, wie er sich jetzt verhalten sollte. Der Schule in den Rücken fallen? All diese Loyalitäten, die gleichzeitig bedient werden mussten, das konnte einen ganz schön fertig machen.

Als Sina gegen neun nach Hause kam – in der Agentur war vor den Feiertagen die Hölle los –, reagierte sie anders, als er erwartet hatte. Sie war empört über die Lehrerin, so empört wie selten. Ob sie mit der Lehrerin in der W-Frage einer Ansicht sei oder nicht, spiele keine Rolle. Die Lehrerin habe sich in die elterliche Erziehung nicht einzumischen, auch nicht in das Weihnachtskonzept der jeweiligen Familie. Das sei übergriffig, grenzwertig und unverschämt. „Der Weihnachtsmann ist unsere Sache“, sagte Sina. „Wenn wir sagen, es gibt ihn, dann gibt es ihn auch. Basta.“

Tobias sollte sich bei der Lehrerin beschweren, Sina hatte wegen des Stresses in der Agentur keine Zeit. Also rief er an und bat um ein Treffen. Die Terminsuche war schwierig, Tobias beharrte, es sei wichtig. Am Ende einigten sie sich tatsächlich auf den Vormittag des heiligen Abends. Alle Achtung, engagiert war die Lehrerin jedenfalls, keine Beamtenseele, das musste man zugeben.

Die Sache war natürlich unangenehm. So wichtig war das alles doch nicht. Alle zerrten sie auf einmal am Weihnachtsmann herum, er, Sina, seine Eltern, die Schule, alle veränderten, je nach aktueller Interessenlage, ihre Positionen, der Weihnachtsmann war geradezu ein Politikum. Und das Kinderzimmer musste auch dringend fertig werden. Drei Tage blieben ihm.

Eine einzige Wand musste er noch von der Raufaser befreien, der Rest würde dann relativ schnell gehen.

Er schabte, und schabte, und schabte, leise rieselten die alten Tapetenreste. Still und starr ruhten die Rollen mit der Motivtapete. Weihnachtlich glänzte der Kleister. Dann geschah das Wunder.

Sein Blick fiel auf einen großen Fetzen, der zu seinen Füßen lag. Auf dem Fetzen stand das Wort: „Weihnachtsmann“. Auf englisch. In der Überschrift. Santa Claus.

Er hob das Papier auf. Es war eine uralte Zeitung. Es war, wie es aussah, der Leitartikel, den er in der Hand hielt.

Ein Mädchen, Virginia, acht Jahre, hatte einen Leserbrief geschrieben. Er wurde im Vorspann zitiert. „Einige von meinen Freunden sagen, es gibt keinen Weihnachtsmann. Papa sagt, was in der ,Sun‘ steht, ist immer wahr. Bitte sagen Sie mir – gibt es einen Weihnachtsmann?“

Der Journalist, vielleicht war es der Chefredakteur, schrieb eine lange Antwort. Die wichtigste Passage lautete ungefähr: „Ja, es gibt den Weihnachtsmann. Es gibt ihn genauso wie die Liebe, die Großherzigkeit und die Zuneigung. Kein Mensch sieht ihn einfach so, so wenig, wie jemand die Großherzigkeit sieht. Das beweist gar nichts. Du siehst nie alles. Eine Welt, in der es keinen Weihnachtsmann gäbe, wäre so öde, als wenn es dort keine Virginias gäbe. Es gäbe dann keine Poesie. Das Licht, mit dem die Kindheit die Welt erfüllt, wäre ausgelöscht.“

Später, in der Nacht, im Internet, würde Tobias erfahren, dass die Zeitung „The New York Sun“ hieß, und dass dieser Artikel zum ersten Mal im Jahr 1897 gedruckt wurde, als Antwort auf die Frage des Mädchens Virginia, und von da an jedes Jahr, weil die Leser es wollten, jedes Jahr zu Weihnachten, so lange es die Zeitung gab, bis 1950, der Autor war da schon lange tot und Virginia eine ältere Dame. Es war der berühmteste und der meistgedruckte Leitartikel der Welt. Deshalb war sein Fund, alles im allem, gar nicht so unwahrscheinlich. Trotzdem war Tobias sicher, dass er ein Wunder erlebt hatte. Er wusste jetzt, was er der Lehrerin sagen würde, und seinen Eltern, und Sina, er würde von der Poesie sprechen, vom Licht der Kindheit, von der Großherzigkeit, er würde für die Magie und die Illusion kämpfen, mit aller Kraft, ausgerechnet er, der Versicherungskaufmann Tobias aus Herne. Und alle anderen würden ebenfalls denken, dass sich ein Wunder ereignet hat.

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