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Wissen: Zwischen Lust und Frust

Wissenschaftler der Freien Universität Berlin untersuchen Gefühle bei Berührungen im Tanz.

Mit geschlossenen Augen, ernsten Mienen und in enger Umarmung stehen die beiden Tänzer nur einen Moment still, bevor sie im Takt der schneller werdenden Musik wieder über das Parkett gleiten. Die Bewegungen anmutig, die Haltung aufrecht. Es sind ästhetische Szenen wie diese, durch die man mit dem Tango die ganz großen Gefühle verbindet – und die immer mehr Hobbytänzer für den aus Lateinamerika stammenden Tanz begeistern. Dass Tanzen für die Tänzer selbst – entgegen der landläufigen Meinung – nicht immer die reine Freude ist, zeigen empirische Studien der Freien Universität Berlin. Professorin Gabriele Brandstetter und zwei ihrer Mitarbeiter haben sich in dem Projekt „Berühren und Rühren – ,movere‘ im Tanz“ den Gefühlen von Tänzern und deren Zuschauern wissenschaftlich genähert. Sie untersuchten dabei Bewegungen und Berührungen ebenso wie das Bewegtsein im emotionalen Sinn.

Was den Tango betrifft, kamen die Wissenschaftler zu überraschenden Erkenntnissen: In Interviews bekannten sich die Tänzer offen zu ihren Gefühlen und sprachen auch von Stress, Überforderung und von nicht harmonierenden Partnern. Der Prozentsatz der Tänze, die als besonders angenehm oder gar als leidenschaftlich wahrgenommen wurden, ist eher gering.

Beim Tango ebenso wie bei den weiteren Forschungsschwerpunkten, dem zeitgenössischen Bühnentanz und der Kontaktimprovisation, galt es für Wissenschaftler wie für Tänzer, eine Sprache für die Dinge zu finden, die beim Tanz in der Regel ungesagt bleiben. „Als Teil des Exzellenzclusters ,Languages of Emotion‘ der Freien Universität ging es in dem Projekt darum, einen tanzwissenschaftlichen Beitrag zur Emotionsforschung zu leisten“, sagt Gabriele Brandstetter. Das Gespräch mit Tänzern war hierfür ein Schlüssel. Aber auch Versuchsreihen mit Tanzgruppen ermöglichten den Wissenschaftlern, gezielt Einfluss zu nehmen auf die Abläufe auf der Tanzfläche: Sie ließen Paare beispielsweise eine enge Form der Umarmung tanzen, die die Gruppe zuvor nicht praktiziert hatte, oder veränderten die Tanzkleidung und befragten die Probanden anschließend zu dem neuen Verhältnis zum Partner.

„Manche Fragen waren den Tänzern unangenehm“, berichtet Projektmitarbeiterin Sabine Zubarik, „einige Gefühle wollen anscheinend nicht in Sprache übersetzt werden – aber auch das ist bezeichnend.“ Schweigen, auch zwischen Tanzpartnern, war eine häufige Beobachtung im Verlauf des Projekts: Ausgesprochene Bewertungen wie „Das war aber schön“ direkt nach dem Tanz oder die sprachliche Äußerung von Gefühlen gelten im Tango als Fauxpas. „Wegen dieser nonverbalen Komponente ist das Tango-Tanzen heute oftmals Teil der Paartherapie“, sagt Gabriele Brandstetter. Denn das Einander-Spüren, das für die Tango-Kommunikation ausschlaggebend ist, kann auch Aufschluss geben darüber, warum sich ein Paar beispielsweise in der Rollen-Verteilung von „Führen und Folgen“ nicht versteht.

Dass der Tanz dennoch so beliebt ist, erklären sich Brandstetter und ihre Mitarbeiter, die für ihre Studien auch mit Wissenschaftlern aus der Psychologie und der Empathie-Forschung zusammenarbeiten, durch den sogenannten Flow. Diesen Zustand, der bei Tango-Tänzern auftreten kann, aber nicht willkürlich erreichbar ist, beschreiben Tänzer als eine Art Rausch. Wegen seiner Seltenheit macht er geradezu süchtig und wird daher von Tänzern mit Erfahrung auch Tango-High oder Sternstunde genannt.

Derartige Hochgefühle bei einer Musikrichtung zu empfinden, deren Texte meist von verlorener Liebe handeln, ist nur ein scheinbarer Widerspruch, wie die Wissenschaftler feststellten: In der Studie „Tango und Trauer“ befragten sie Tänzer aus aller Welt, ob und wie sich die Berührung mit dieser Tango-Melancholie mit eigener Trauererfahrung vereinbaren ließe. Obwohl dieser Hintergrund des Tango den meisten Tänzern bewusst ist, helfe der Tanz, wieder positivere Empfindungen zuzulassen und eigene Trauer zu verarbeiten.

Forschungsreisen lieferten den Wissenschaftlern weitere Erkenntnisse über die Gefühle der Tänzer und des Publikums. Sie führten nach Buenos Aires, in die Heimat des Tango, und nach New York, wo die Kontaktimprovisation in den 1970er Jahren ihren Ursprung nahm. Die körperliche Annäherung zweier Tänzer steht dabei im Vordergrund – Aufführungen im klassischen Sinn oder eine erlernbare Technik gibt es nicht. „Gefühle sollen bei diesen Workshops eigentlich ausgeblendet werden – ganz anders als beim emotional aufgeladenen Tango“, sagt Projektmitarbeiter Gerko Egert. In einer Art Jam Session schlüpften die Tänzer auch immer wieder in die Rolle des Zuschauers, und es zeigte sich, dass Gefühle wie etwa Angst oder Verantwortungsbewusstsein nicht auszuschalten sind. „Tanz löst wie ein bewegender Film durch den visuellen Reiz eine kinästhetische Reaktion beim Zuschauer aus“, sagt Gabriele Brandstetter. Diese Selbstwahrnehmung schriftlich festzuhalten, ist bei der Kontaktimprovisation oft Bestandteil der Kurse, sodass selbst Laien den Wissenschaftlern reflektiert Auskunft geben konnten.

Wie vielfältig Berührungen im zeitgenössischen Tanz sein können, zeigt das Dissertationsvorhaben von Gerko Egert. Er vergleicht Stücke zeitgenössischer Choreografen mit Blick auf den Stellenwert, den Berührungen und die dadurch aufgebauten affektiven Beziehungen haben.

Mit Tänzern wie Martin Nachbar, der in seinen Performances Gefühle wie Hass, Liebe, Eitelkeit oder Begierde mit tänzerischen Mitteln umsetzt, und Philipp Gehmacher, dessen Stil von charakteristischen Armbewegungen geprägt ist, tauschten sich die Wissenschaftler in einer internationalen Abschlusstagung noch einmal mit Praktikern und dem Publikum aus. Und die insgesamt vierjährige Forschungsarbeit wirkt nach: Gabriele Brandstetter schreibt an einem Buch, eine Publikation zur Tagung erscheint ebenfalls in Kürze.

Im Internet

www. fu-berlin.de/loe

Gisela Gross

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