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Bundeskanzlerin Angela Merkel und der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan am 18.10.2015 im Yildiz-Palast in Istanbul.

© dpa

Flüchtlinge und Türkei: Korruption ist der Zwilling humanitärer Hilfe

Die EU plant Finanzhilfen für Flüchtlingscamps in der Türkei. Ohne echte Kontrollen wird das aber nichts bewirken. Eine Analyse.

Von Caroline Fetscher

Allerhand Hilfe zum Helfen soll die Türkei erhalten. Um zu verhindern, dass noch mehr frustrierte Flüchtlinge aus türkischen Zeltstädten Richtung Nordwesten ausbrechen, will sich die Bundesrepublik, will sich auch die Europäische Union großzügig zeigen. Milliarden sollen in Richtung Ankara strömen, damit sich für hunderttausende Syrer, die vor dem Bürgerkrieg geflohen sind, die Verhältnisse in den Lagern bessern. Im September 2015 gab das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR die Zahl syrischer Flüchtlinge in der Türkei mit knapp zwei Millionen an: 1 938 999. Viele leben in Camps. Viele wollen weg.

Zeltstädte sind kein Ort zum Bleiben

Improvisierte Zeltstädte sind kein Ort zum Bleiben. Wer welche besucht hat, weiß das. Hunderte oder Tausende, die durch Gewalt aus ihrem Alltag, ihrer Arbeit, ihrer Nachbarschaft geschleudert wurden, leben auf engem Raum zusammen. Alle vertrauten Wege sind weg, auch die meisten vertrauten Menschen, bis auf, vielleicht, einige aus der Familie oder aus demselben Ort. Es riecht nach kleinen Feuerstätten, nach Kloake, nach Schweiß und Not. Viele schlafen unruhig, manche der Traumatisierten hören die anderen nachts schreien. In der Abhängigkeit von Fremden, die Brot und Wasser, Decken und Medikamente bringen, kämpfen die Erwachsenen gegen Regression und Entwürdigung an. Verstörte Kinder bekommen all das mit und ziehen sich zurück in Fantasien.

Ein paar Wochen wird das kaum Erträgliche ertragen, ein paar Monate vielleicht. Spätestens nach ein, zwei, drei Jahren, und wenn das Essen weniger wird, die Perspektiven sich verengen, beginnen gesunder Zorn und Tätigkeitsdrang das Interim zu sprengen. Diese Impulse sind gute, notwendige Signale der Hoffnung. Die Leute wollen sich aus der Situation lösen, aktiv sein, Akteure ihres Lebenswegs. Der führt im Augenblick sehr oft auf die sogenannte Balkanroute.

Die meisten Helfer rechnen eh damit, dass 30 Prozent der Gelder durch Korruption zweckentfremdet werden

Jetzt hoffen deutsche Politiker, die Türkei mit großen Geldgaben dazu zu bewegen, die Lage der Rausdrängenden so zu verbessern, dass sie weiter ausharren, dass sie positivere Erwartungen an ihr aktuelles Gastland knüpfen. Solange diese humanitäre Hilfe naiv und ohne Bedingungen geboten wird, bleibt sie – das ist zu befürchten – ohne jegliche Wirkung. Sie wäre verlorene Liebesmüh oder, hier, Abwehrmüh. Denn wo der Rechtsstaat nicht zuverlässig etabliert ist, ist die Korruption der Zwilling humanitärer Hilfe. Faktisch überall da, wo diese Bedingung fehlt. In der Türkei fehlt sie.

Jeder Hilfsorganisation, vom Roten Kreuz bis zur kleinen Nichtregierungsorganisation (NGO), ist das bewusst. Jede hat damit ihre Erfahrungen, sei es in Szenarien von Kriegen, Bürgerkriegen oder Naturkatastrophen. Auch beim UNHCR weiß man das genau. In einer Mischung aus tapferer Zuversicht und Resignation erklären die Helfer gern einen Zusammenhang, den sie „trickle down effect“ nennen, den Durchsicker-Effekt. Der geht so: Gewiss, die Funktionseliten, die Machthaber, die lokalen Platzhirsche zweigen sich von allem, was hereinfließt, ihren Teil ab. Aber irgendwas sickert durch zu denen, die Hilfe brauchen. Vielleicht erhalten sie kleine Hilfsjobs beim Bau der Bürgermeistervilla. Oder der Wirtschaft geht es besser, weil mehr Geld ins Land fließt, das wäre doch irgendwie auch ein Erfolg.

Geldgeschenke ohne Bedingungen sind Vergeudung

Dreißig Prozent Korruptionsverlust durch Abzweigen, Zweckentfremden und andere Methoden, damit rechnen offenbar die meisten Helfer eh. Es gab schon Fälle, da lag die Ziffer bei achtzig Prozent oder bei hundert. Fehlendes Personal, fehlende Sprachkenntnis, fehlende interkulturelle Kompetenz, so sah und sieht es oft aus, auch bei den Millionenspenden für Tsunami-Opfer.

Es fehlt vor allem der politische Wille, Kontrolle über die Mittelverwendung zu erhalten – also Verantwortung zu übernehmen, diplomatische Verstimmung zu riskieren. Denn der Unmut der abkassierenden Eliten folgt auf dem Fuß, wenn die Gelder nicht „wie gewohnt“ fließen. Das kümmert oft wenig, wenn die Flutopfer in Bangladesch oder die Bürgerkriegswaisen in Liberia in ihren heimischen Hütten bleiben. Im aktuellen Fall dürfte, müsste den spendierbereiten politischen Akteuren klar sein, dass sich wenig bis nichts ändern wird, wenn von Milliarden nur ein paar Cent bei der Zielgruppe, den Primärflüchtlingen in der Türkei, ankäme. Und käme es so, wären weiterhin genauso viele Geflüchtete bereit, die Überfahrt auf untauglichen Booten zu wagen.

Keiner ist zu beneiden, der mit Erdogan verhandeln muss

Wenn hier nicht konkret, klar und spürbar Hilfe geleistet wird, inklusive Arbeitsperspektiven und Integrationsprogrammen in der Türkei, dann wird nichts gewesen sein als Spesen. Es ist keiner zu beneiden, der mit dem Palastbewohner Recep Tayyip Erdogan verhandeln muss. Doch wer es tut, sollte die Zeit und das Geld nicht vergeuden.

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