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Margot Friedländer in der Löcknitz-Grundschule.

© Erhard Eggert

Holocaust-Überlebende Margot Friedländer: Die Jüngeren stellen die schwersten Fragen - und die besten

Margot Friedländer, Jahrgang 1921, ist eine von wenigen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die noch an Schulen mit Kindern und Jugendlichen über die NS-Zeit sprechen können. Die Löcknitz-Grundschule im Bayerischen Viertel ist besonders bemüht um Kontakt.

Was aus ihrer Mutter dann geworden ist? Woher sie denn weiß, dass ihre Mutter gestorben ist? Fragen wie diese sind der Grund, warum Margot Friedländer eigentlich nicht gerne an Grundschulen geht. Es ist ohnehin schwer über ihre Verfolgung im Nationalsozialismus und die Ermordung ihrer Familie zu berichten und aus ihren Memoiren „Versuche dein Leben zu machen“ zu lesen, sagt die 92-Jährige. Es gibt Fragen, die ältere Schüler, die im Unterricht von der Massenvernichtung in Auschwitz gehört haben, der Zeitzeugin in der Regel nicht stellen. Und trotzdem hat Margot Friedländer für die Löcknitz-Grundschule im Bayerischen Viertel diesen Montag, schon das dritte Jahr in Folge, eine Ausnahme gemacht.

Die Löcknitz-Grundschule engagiert sich besonders für das Gedenken an die NS-Opfer und für den Kontakt zwischen ihren Schülern und Zeitzeugen – der wegen des fortschreitenden Alters immer weniger eine Selbstverständlichkeit ist. Vier Personen sind in langjährigem, regelmäßigem Kontakt mit der Schule. Sie werden, wie Margot Friedländer, auch dabei sein, wenn diesen Donnerstag die Sechstklässler wie jedes Jahr neue Steine an ein immer größer werdendes Denkmal für Schöneberger NS-Opfer auf dem Schulgelände setzen. 49 neue Steine kommen diese Woche dazu, über 1100 sind es damit insgesamt.

Seit zwei Jahren holt die Schulleiterin Christa Niclasen auch schon die fünften Klassen zu den Gesprächen mit den Zeitzeugen dazu, damit möglichst viele Schüler aus der persönlichen Begegnung lernen. Seit diesem Jahr lässt sie die Gespräche auch filmen – für die kommenden Schülerjahrgänge, die niemanden mehr persönlich treffen können. „Versucht euch so viel wie möglich zu merken“, sagt Niclasen ihren Schülern bei der Begrüßung.

Und es ist ein einprägsames Bild, wie Margot Friedländer vorne in der Mensa der Schule an einem Tisch sitzt: vor ihr eine Sonnenblume, um ihren Hals eine orange-rot leuchtende Bernsteinkette. Die Kette ist neben einem kleinen, alten Adressbuch und einer Nachricht mit eben diesen Worten „Versuche dein Leben zu machen“ das einzige, was ihr von ihrer Mutter geblieben ist. Im Januar 1943 werden ihre Mutter und ihr Bruder, während die Tochter unterwegs ist, aus dem Haus in der Skalitzer Straße weg deportiert. Die 21-Jährige lebt daraufhin ein Jahr und drei Monate versteckt bei 16 verschiedenen Helfern bis sie während eines Bombenangriffs in einem Luftschutzkeller aufgegriffen und in das Ghetto Theresienstadt deportiert wird.

Friedländer erzählt den Schülern von den Fremden, die ihr halfen, denen sie aber nicht näher vertraut werden durfte, um sie im Fall einer Verhaftung möglichst nicht verraten zu können. Sie erzählt von geteilten Lebensmittelrationen, von den offenen Fragen, warum ihre Mutter nicht auf sie gewartet hat und was sie mit ihrer kurzen Nachricht wohl meinte. Und von dem Tag als in Theresienstadt, dem „Vorzeigelager“ der Nazis, ein Viehwagon ankam und die abgemagerten KZ-Häftlinge herausfielen. Einer in ihre Arme, so leicht, dass die zierliche Frau ihn tragen konnte. Es war der Tag als Friedländer klar war, dass ihre Familie nicht überlebt haben wird. Nur die Kette und das Adressbuch haben als Erinnerungsstücke all diese Stationen überdauert, sagt Friedländer. „Wir waren Gebrochene. Wir haben zu viel erlebt.“

So schwer es für die Fünft- und Sechstklässler ist, der über eine Stunde dauernden Lesung konzentriert zu zu hören, so zahlreich und aufmerksam sind ihre Fragen danach: Warum sie gar nicht von ihrem Vater erzählt hat, will ein Schüler wissen. „Das fällt mir schwer“, sagt Friedländer. Die Eltern hatten sich 1937 getrennt, der Vater ging 1939 ohne die Familie nach Belgien und wurde zuerst in eine Lager in Frankreich, dann nach Auschwitz deportiert. Ob sie nicht sehr allein war nach dem Lager? Ja, aber sie habe dort einen Herrn Friedländer kennengelernt und noch in Theresienstadt geheiratet. Das habe es leichter gemacht. Auch nach ihrem Mädchennamen, nach Bekanntschaften „mit anderen Zeitzeugen“ und nach Fremdsprachenkenntnissen erkundigen sich die Schüler. „Ja, Englisch“, antwortet Friedländer und ein Raunen geht durch den Saal, als die Schulleiterin ergänzt, dass das Ehepaar immerhin 64 Jahre in New York gelebt hat. Erst nach dem Tod ihres Mannes kehrte Margot Friedländer nach Berlin zurück.

Ob sie den Auftrag ihrer Mutter, zu versuchen ihr Leben zu machen, erfüllt hat, will eine Schülerin wissen. Margot Friedländer überlegt. „Ja“, sagt sie. Immerhin ist sie ja da.

Die Fragen der Jüngeren, die sich noch nicht genieren, seien schwer für sie, sagt Friedländer später. Aber es seien die Besten.

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