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Kurt Landsberger in seiner früheren Wohnung in Berlin-Schöneberg.

© Georg Moritz

Jüdische Nachbarn im Bayerischen Viertel in Berlin: Heimatbesuch eines Vertriebenen nach sieben Jahrzehnten

Ein US-Visum rettete ihm das Leben. Nun kehrt Kurt Landsberger in die Wohnung zurück, aus der er als jüdischer Junge vor den Nazis fliehen musste. Der Besuch steht am Ende einer Suche, auf die sich eine Hausgemeinschaft gemacht hatte.

Das Haus ist dasselbe. Die helle Altbaufassade, die Stuckverzierungen, die Hausnummer 26. Auch der Mann, der vor der Haustür steht, ist derselbe. Aber für ihn hat sich alles geändert. Kurt Landsberger ist 89 Jahre alt, sein Haar weiß, er hört und sieht schlecht. Trotzdem ist er gekommen. Er will von seinem Leben erzählen und davon, dass er in diesem Haus einmal gelebt hat. Weiße Windlichter flackern neben ihm im Fenster, jemand hat Rosen auf den Sims gelegt.

Auf der Straße vor Haus Nummer 26 stehen 150 Menschen und wollen Landsbergers Rede hören, Anwohner, Passanten. Seine Frau und seine beiden Töchter begleiten den alten Mann, gemeinsam sind sie aus Florida angereist. Landsberger trägt ein dunkelblaues Sakko, das zu warm ist für diesen sommerlichen Tag. Auf seiner Stirn sammeln sich Schweißperlen. Doch Landsberger zieht den Schlipsknoten enger und drückt den Rücken durch. Es soll ein würdevoller Auftritt sein. Er ist nicht der einzige Jude, der früher hier gewohnt hat. Doch Landsberger ist der einzige, der zurückgekehrt ist. Fünf Minuten will er sprechen und nur einmal ein deutsches Wort benutzen: „Vergangenheit“.

Am Tor zum Hinterhof lehnt ein Mann in lilafarbenem Hemd und Nadelstreifenhose. Er hört Landsberger zu. Peter Schulz ist halb so alt wie Landsberger und wohnt seit drei Jahren im ersten Stock des Hauses, rechte Wohnung, goldenes Türschild. Auch er hat eine Geschichte zu erzählen.

Für Schulz beginnt sie mit Fotos, die er 2008 in einer Ausstellung im Rathaus Schöneberg findet. „Wir waren Nachbarn“ heißt das Projekt, das an die Juden in Berlin erinnert. Er betrachtet die Gedenkalben, blättert durch Seiten, die von Verfolgung und Angst erzählen, von Fluchtversuchen und zerrissenen Familien. Auf einem der Einbände steht plötzlich seine eigene Adresse: Apostel-Paulus-Straße 26, in dem Album ein Schwarz-Weiß-Foto aus den 30ern: Zwei Frauen auf einem Balkon sind zu sehen. Eine von beiden lehnt an der Hausfassade, den Blick auf den Boden geheftet, die Hände hinter dem Rücken. Sie trägt ein helles Kleid, ihr kinnlanges dunkles Haar hat sie aus dem Gesicht gekämmt. Die Frau hieß Hertha Rothholz. Sie war verheiratet und hatte einen kleinen Sohn. Der Balkon, auf dem sie stand, ist jetzt der von Peter Schulz und seiner Freundin.

„Ich habe tagelang schlecht geschlafen“, sagt Schulz über seine Entdeckung. Er arbeitet als Restaurator, mag alte Dinge und ihre Geschichten. Den Boden in seinem Flur will er so erhalten, dass die abgenutzten Stellen an den Dielen zu sehen sind. Doch dass über dieselben Dielen vielleicht auch Menschen gegangen sind, die von den Nazis aus ihren Wohnungen gezerrt und getötet wurden, macht ihm Angst.

Auf der nächsten Eigentümerversammlung bringt Schulz das Thema zur Sprache. Die Nachkriegszeit hat keiner der jetzigen Hausbewohner erlebt. Erst in den 80er Jahren entstanden hier Eigentumswohnungen. Gabrielle Pfaff, heute 62 Jahre alt, war die erste Eigentümerin, die in das Haus zog. „Ich fühle mich durch den Kauf an dieses Haus gebunden“, sagt sie. Darum ist es ihr nicht gleichgültig, was hier geschah. „Mir ist die Vergangenheit dieses Gebäudes wichtiger als einem Mieter, der nur kurz bleibt.“ Wie Peter Schulz will sie wissen, ob noch mehr Juden in ihrem Haus wohnten, ob sie flohen, wie sie starben. Sie wollen ihre Hausgemeinschaft um die Verfolgten erweitern.

Vor vielen Berliner Häusern sind kleine, golden schimmernde Plaketten ins Pflaster eingelassen, sogenannte „Stolpersteine“. Sie erinnern an jüdische Bürger, die deportiert wurden. Schulz und Pfaff schwebt etwas anderes vor. Sie werden Teil einer Arbeitsgruppe, die sich auf eine lange Suche begibt. Schulz’ Recherche beginnt mit einem Blick in das alte Berliner Adressbuch. In den Listen stehen immer nur der Name des Familienoberhaupts und dessen Beruf. Schulz sitzt an seinem Wohnzimmertisch, fährt mit dem Zeigefinger durch die Namensreihen und liest das Schicksal seiner Vormieter an drei Zeilen ab:

– „1939: Rothholz, E., Kaufmann“.

– „1940: Rothholz, E., kaufmännischer Angestellter“.

Schulz macht eine Pause.

– „1941: Rothholz, E. Israel, Tiefbauarbeiter“.

Der Eintrag im Jahr 1942 fehlt. Auch ein anderer Name ist verschwunden, der jahrelang unter derselben Adresse verzeichnet war: „Landsberger, R., Apotheker“.

Es ist das Jahr 1933, als Richard Landsberger, seine Frau Johanna, der Sohn Kurt und seine jüngeren Zwillingsgeschwister in die Apostel-Paulus-Straße ziehen. So recherchiert es die Arbeitsgruppe. Die Landsbergers wohnen im zweiten Stock links, schräg gegenüber der Familie Rothholz. Dem Vater gehört eine gut laufende Apotheke, die Mutter umsorgt die Familie. Kurt Landsberger, der ältere Sohn, geht auf das Hohenzollern-Gymnasium in der Nachbarschaft. Die Landsbergers sind Familienmenschen. Oft unternehmen sie gemeinsame Spaziergänge, jeden Freitag kommt der Onkel der Kinder zum Abendessen. Wenn alle satt sind, spielt er einige Stücke auf dem Klavier. Die Kinder sind Mitglieder in einem jüdischen Sportverein, spielen Fußball, Handball und Tennis. Kurt Landsberger erinnert sich, wie sie mit Freunden Eis essen am Bayerischen Platz, die Polizeiautos beobachten, die mit Sirenen aus der Wache an der Apostel-Paulus-Straße rasen, an der anderen Straßenecke gibt es einen Kuhstall und frische Milch. Er ist damals elf Jahre alt.

Dann werden erste Gesetze und Verbote erlassen, die Landsbergers Leben ändern sollen: Juden dürfen nicht mehr im Strandbad Wannsee baden oder in Gruppen wandern gehen, sie werden aus Vereinen ausgeschlossen. Bald werden Berufsverbote ausgesprochen. Richard Landsberger gibt seine Apotheke 1936 auf – ein Zwangsverkauf, weit unter dem eigentlichen Wert des Geschäfts. Für seine Kunden richtet er sich im Hinterhof des Wohnhauses ein provisorisches Labor ein, wo er Verdauungstees mischt.

Einmal, Kurt Landsberger darf in der Schule schon nicht mehr an Theaterproben teilnehmen, wird er nach dem Unterricht von Mitschülern verfolgt, rennt nach Hause und verschanzt sich hinter der Tür, bevor sie ihn erreichen können. Nun sind es nicht mehr nur Verbote, die den Landsbergers das Leben schwer machen. Eine Klassenkameradin kündigt der Schwester die Freundschaft. Das Mädchen ist verstört. Kurz darauf wechseln die Geschwister auf die jüdische Leonore-Goldschmidt-Schule am Hohenzollerdamm.

Die Landsbergers tragen den Judenstern, das Einkaufen wird zur Qual. Sie trauen sich nicht länger an Orte, an denen sie unerwünscht sind. Stattdessen planen sie die Flucht. Im April 1938 reisen die Eltern nach Detroit, wo sie Verwandte haben und mit deren Hilfe Visa organisieren.

Doch zurück in Berlin wird Richard Landsberger verhaftet und ins Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht. Ein Nachbarsjunge beobachtet, wie zwei Gestapo-Männer den Apotheker aus dem Haus zerren. Es ist das Touristenvisum aus den USA, das ihn rettet. Die Nazis lassen ihn frei – unter der Bedingung, dass er Deutschland binnen vier Wochen verlässt.

Ein letztes Familienfoto, mit Kurt Landsberger als zweitem von links.

© Privat

Vor seiner Abreise machen die Landsbergers noch einen Termin beim Fotografen, für ein letztes Familienbild. Die Eltern sitzen vorne, die Gesichter einander zugewandt. Sie lächeln. Die Zwillinge im Hintergrund blicken auf ihre Eltern herab, Kurt Landsberger ist der Einzige, der direkt in die Kamera blickt. Er hat schwarzes Haar, ein längliches Gesicht, markante Brauen. Er ist 17 Jahre alt und weiß nicht, ob er seinen Vater noch einmal wiedersehen wird. Am 7. Januar 1939 lässt Richard Landsberger seine Familie in Berlin zurück. An seiner Stelle zieht sein Bruder Franz in die Wohnung ein. Er ist Jurist und darf nicht mehr in seinem Beruf arbeiten.

Nachdem Richard Landsberger fort ist, nimmt die Drangsalierung durch die Nazis neue Dimensionen an: Am Bayerischen Platz dürfen Juden nur noch die gelb markierten Sitzbänke benutzen, einkaufen nur am Nachmittag zwischen 16 und 17 Uhr, sie müssen Schmuck und Silber abgeben und können grundlos ihrer Wohnung verwiesen werden.

Die Nationalsozialisten schließen auch die jüdische Schule, auf welche die Geschwister gewechselt waren. Kurt Landsberger arbeitet von nun an als Lehrling für eine jüdische Firma und repariert Motoren. Als das Geschäft an einen „Arier“ verkauft wird, kann er trotzdem bleiben. Im Februar 1940 erhalten Johanna Landsberger und ihre drei Kinder die beantragten Visa und flüchten. In New York ist die Familie schließlich wieder vereint.

Nur Franz Landsberger, der Onkel der Kinder, bleibt zurück. Er wohnt jetzt bei Familie Rothholz. Angst um sein eigenes Leben hat er nicht, er war doch Frontsoldat im Ersten Weltkrieg. Drei Wochen nach der Abreise seiner Verwandten schreibt er einen Brief an seinen Neffen Kurt. Die Gestapo habe das Haus durchsucht, um ihn, Kurt, zu verhaften, berichtet er. Dann reißt der Kontakt nach Amerika ab. Im September 1942 wird er deportiert und stirbt in einem Konzentrationslager in Estland.

Sie haben die Suche nach den jüdischen Vormietern begonnen: Peter Schulz und seine Freundin Stefanie Arnold wohnen im ersten Stock des Hauses.

© Georg Moritz

70 Jahre später blättert Peter Schulz durch einen Ordner, in dem er seine Recherchen dokumentiert hat. Sie führten ihn und seine Nachbarn ins Stadtarchiv, die Geschichtswerkstatt, die Jüdische Gemeinde und zum Friedhof in Weißensee, in die Landesarchive von Berlin und Potsdam, zu Gedenkbüchern und jüdischen Nachrichtenblättern und nach Yad Vashem, der weltweit größten Holocaust-Gedenkstätte mit wissenschaftlichem Archiv in Jerusalem. Sie schickten Namen an den internationalen Suchdienst ITS, veröffentlichten Anzeigen beim Berliner Senatsportal und suchten Verwandte auf Facebook. Sie fanden Deportationslisten, Entschädigungsanträge von Überlebenden, Passagierlisten von Flüchtlingen, Einbürgerungsdokumente, Vermögenserklärungen. Todesanzeigen verrieten Namen von Nachfahren.

Den Dielenboden im Flur hat Peter Schulz in der Zwischenzeit renoviert. Dabei findet er unter dem Parkett Pfennigstücke aus den 30ern, ein winziges grünes Plastikpferd und einen Spielzeugelefanten. „Die Spielsachen müssen Wolfgang Rothholz gehört haben“, sagt Schulz. Aus den Akten hat er erfahren, was aus ihm wurde.

Es ist ein Montag, der 1. März 1943, als die Gestapo die restlichen Mieter in ihren Wohnungen zusammentreibt und abtransportiert. Wolfgang Rothholz ist mit elf Jahren der Jüngste. Früh am Morgen müssen er und seine Eltern zum Bahnhof Moabit, zum 31. Osttransport, Auschwitz. 1719 weitere Personen fahren mit diesem Transport. Rund 150 Männer von ihnen kommen als Häftlinge in das Lager, der Rest wird in den Gaskammern umgebracht – auch Eduard, Hertha und Wolfgang Rothholz.

Vor der Deportation verfasst die Familie einen Brief an den Bruder von Eduard Rothholz, der in Australien lebt. „Wir werden wohl unsere Adresse verändern – jetzt arbeite ich in einer Fabrik“, berichtet Frau Rothholz. In unbeholfener Schreibschrift steht unter dem Text: „Viele Grüße, Wolfi“. Der Bruder antwortet, der Brief vom Juli 1943 schafft es nach Berlin, dann bekommt er eine grün-weiße Marke mit dem Stempel „Abgereist, ohne Angabe der Adresse“.

Peter Schulz fand Brief und Umschlag zwischen vergilbten Akten im Entschädigungsamt, wo Rothholz’ Bruder nach dem Krieg Geld für den Tod seiner Verwandten einforderte. Hier ist auch das Datum der Deportation vermerkt. Nach jahrelangem Warten wurden den Erben 6480 Deutsche Mark zugestanden – die Summe entspricht dem Verdienstausfall des Bruders in den Jahren 1937 bis 1945. Peter Schulz blickt auf die Entschädigungssumme auf dem Papier, die Zahl ist doppelt unterstrichen. „Sechstausend Mark für drei Menschenleben“, sagt er, „das ist erbärmlich.“

An der Hausfassade hängt jetzt eine Gedenktafel, die an die ehemaligen jüdischen Mieter erinnert.

© Annika Sartor

Drei Jahre hat die Spurensuche gedauert. Die Arbeitsgruppe hat sich schließlich dafür entschieden, die Namen der jüdischen Vormieter im Treppenhaus aufzulisten. Eine weitere Gedenktafel soll in die Fassade des Hauses eingelassen werden – „untrennbar mit dem Gebäude verbunden“. Darauf steht: „Den 28 Nachbarn, Frauen, Männer und Kinder, die in diesem Haus lebten und von den Nationalsozialisten als Juden verfolgt, vertrieben oder ermordet wurden.“

Bevor die Widmung enthüllt wird, will Kurt Landsberger noch einmal seine alte Wohnung sehen. Der Aufstieg in den zweiten Stock fällt ihm schwer, mit der rechten Hand stützt sich Landsberger auf das hölzerne Treppengeländer. Nach mehr als 72 Jahren betritt er sein altes Zuhause: 130 Quadratmeter, knarrende Dielen, Balkon zur Straße. Hier feierte er seine Bar Mitzwa. Zögernd blickt er in jeden Raum, seine beiden Töchter folgen ihm. „War das das Wohnzimmer?“, fragt eine von ihnen im größten Raum der Wohnung mit Bücherregalen bis zur Decke. „I guess so“, sagt Landsberger, „vermutlich“. „Welches war dein Zimmer?“ Achselzucken. „Wo stand das Klavier?“ Landsberger deutet unsicher mit dem Zeigefinger in eine Ecke.

Er ist den jetzigen Bewohnern seines alten Hauses dankbar für ihre Suche. In den USA hat er ein neues Leben begonnen, mit zehn Mark in der Tasche und holprigem Schulenglisch. Zunächst finanzierte er in New York das Leben seiner Eltern und Geschwister, arbeitete in allen Jobs, die er bekommen konnte, montierte Spiegel, reparierte Lüfter, saß an Maschinen, die Männersocken strickten. Dann wurde er 1944 in die Armee eingezogen, musste nach England, Frankreich, Belgien – und Deutschland. Nach dem Krieg fand er einen Job in der Plastikindustrie, den er 45 Jahre lang behielt. Er führe ein schönes Leben, sagt Landsberger. Florida im Winter, im Sommer New Jersey.

Er ist mit gemischten Gefühlen hier nach Berlin gekommen. Seine Schwester hat die Reise verweigert. Bevor er die Treppen wieder hinabsteigt, deutet Landsberger auf einen schweren Ledersessel am Fenster vor dem Balkon. „We had a sessel like this, too“, sagt er diesmal und nickt.

Auf dem Weg nach unten geht er an der alten Wohnungstür der Familie Rothholz vorbei. Aber an die Nachbarn erinnere er sich nicht, sagt er. An keinen von ihnen. Dann dreht er sich um und geht zurück auf die Straße, in der er als Zehnjähriger Fahrradfahren lernte.

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