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Berlin: Geschichte live: "Stell dich an die Wand, sonst wirst Du gelyncht"

Werner Angress ist schüchtern. Normalerweise würde er nicht vor Publikum reden, sagt er den Neuntklässlern der Walter-Gropius-Schule.

Werner Angress ist schüchtern. Normalerweise würde er nicht vor Publikum reden, sagt er den Neuntklässlern der Walter-Gropius-Schule. Dies ist aber eine besondere Gelegenheit. Schließlich ist Angress vielleicht der letzte, der Auskunft über Manfred Gottschalk geben kann. Ein Tagesspiegel-Artikel hat den Achtzigjährigen in die Schule gebracht. Dort war am 5. Oktober von einem Projekt die Rede, mit dem Geschichtslehrer Karl-Heinz Hofmeister-Lemke seinen Schülern die Nazi-Zeit nahebringen wollte: Ein großer Artikel im Naziblatt "Der Stürmer" hatte 1935 vom 15-jährigen Juden Manfred Gottschalk berichtet, der mit seiner Mitschülerin Anni R. in einem Hausflur von der Polizei aufgegriffen wurde. "Vergewaltigung" titelte das Hetzblatt, während ein SPD-Korrespondet schrieb, die beiden hätten sich bloß vor der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt in den Korridor geflüchtet. Unter Druck gab Anni zu Protokoll, von Manfred vergewaltigt worden zu sein. Die Chancen, mehr über das Schicksal von Manfred und Anni zu erfahren, schienen gering. Bis Angress sich meldete.

Die Jugendlichen können kaum an sich halten: "Was ist mit Manfred passiert, wie haben sie ihn kennen gelernt?" will jemand wissen. "Das erste Mal habe ich Manfreds Bild auf dem Weg in meine Schule in der Drakestraße gesehen", erzählt Angress, dessen schmächtige Figur im grau-grünen Jackett zu verschwinden scheint. Dort hing in einem Stürmer-Kasten der besagte Artikel aus. Wiedergesehen habe er Manfred auf einem Lehrgut in Schlesien. Junge Juden wurden dort zu Handwerkern und Landwirten ausgebildet, weil das ihre Chancen auf ein Einreisevisum in andere Staaten erhöhte. Dort stand eines Tages jener rothaarige Junge in der Zimmertür. "Ich habe einmal Dein Bild gesehen", begrüßte Angress den scheuen Neuankömmling. Worauf der ihm bei einem Waldspaziergang die Geschichte mit Anni erzählte.

"Und, was hat er gesagt?" will Oscar aufgeregt wissen. "Die haben nie etwas anderes getan, als zu knutschen", berichtet Angress. Und obwohl ein Amtsarzt festgestellt habe, dass das Mädchen noch Jungfrau war, sei Manfred erst nach acht Monaten frei gekommen. Zwei Alben mit Fotos lässt Angress rumgehen. Die Jugendlichen erkennen Manfred sofort, schließlich haben sie sein Bild schon im Stürmer-Artikel gesehen. Inzwischen wissen sie, dass Gottschalk vor zwei Jahren in den USA gestorben ist, wohin er und Angress 1939 auswanderten. Sporadisch sei der Kontakt nach dem Krieg gewesen, sagt Angress. Denn Gottschalk, der sich dann Gordon nannte, heiratete eine Nichtjüdin, der er seine Herkunft verheimlichte. Erst spät habe man wieder voneinander gehört, vor drei Jahren scheiterte ein Wiedersehen an organisatorischen Problemen.

Etwas tastend noch wollen die Schüler jetzt auch mehr über den wachen alten Mann vor ihnen wissen. Wie er sich in ihrem Alter als Jude gefühlt habe, fragen sie. "Als Pubertierender sah ich mich dauernd gedemütigt durch dumme Bemerkungen der Lehrer und den Spott der Schüler", erzählt Angress. Er habe aber unheimliches Glück gehabt und sei nie verprügelt worden. Als ihm eine Parallelklasse ans Leder wollte, sei er sogar von den Hitlerjungen der eigenen Klasse verteidigt worden. Einer der Nazi-Jungen machte ihm allerdings schon 1932 das Leben schwer. Als er wegen einer Krankheit verspätet in seine neue Schule, das Lichterfelder Realgymnasium, eingeschult wurde, war sein Judentum schon überall bekannt - "das stand ja im Klassenbuch". Noch heute erinnert er sich an jenen Arne Glaubwitz, der ihn mit den Worten begrüßte: "Dann bist Du also der Jude. Stell Dich an die Wand und rede nicht, sonst wirst Du gelyncht." Von solchen Anfeindungen entnervt gingen viele jüdische Freunde nach der Machtergreifung 1933 lieber auf jüdische Schulen. Angress blieb.

Später hatte er sogar noch ein Mal die Lacher auf seiner Seite: "Unser Chemielehrer unterrichtete nur noch Rassenlehre", erinnert sich Angress. Wegen seiner Kurzsichtigkeit saß der Außenseiter immer in der ersten Reihe. Bei seinen Ausführungen über arisches Aussehen zeigte der Lehrer irgendwann auf Angress: "Der hat einen arischen Hinterkopf, genau wie Goebbels", sagte er. Die Klasse prustete los. "Schließlich", so Angress, "hatte er den einzigen Juden der ganzen Schule erwischt". Irgendwann dann die Frage nach der Familie. "Meine Mutter und meine Brüder haben überlebt", sagt Angress. Keiner traut sich, nach dem Vater zu fragen, der in Holland von der Gestapo abgeholt wurde und in Auschwitz starb.

Nach ihrer Auswanderung meldeten sich Angress und Gottschalk 1941 freiwillig zur amerikanischen Armee, waren später bei der Invasion in der Normandie dabei. "Manfred ist auf dem Gutshof schon gerne Traktor gefahren", erinnert sich Angress, "deswegen ist er dann auch Panzerfahrer geworden". Wegen ihrer Deutschkenntnisse verhörten sie gefangene SS-Offiziere. "Das war nicht einfach, besonders, weil wir nicht auf die Ebene der Nazis herabsinken und uns korrekt verhalten wollten."

Sieben Jahre hat Angress in Virginia dann noch als Landwirt gearbeitet, erst spät ein Studium begonnen. Professor für Geschichte ist er in den USA aber doch geworden. Die Akte Gottschalk fiel ihm dann bei seinen Studien im Gestapo-Archiv noch einmal in die Hände. Die hatte den Fall in einer Empfehlung an die Regierung zur Ausformulierung der Nürnberger Rassengesetze als abschreckendes Beispiel für sexuelle Kontakte zwischen Juden und "Arierinnen" angeführt.

Nach seiner Emeritierung kehrte Angress 1988 nach Deutschland zurück. Warum, will Karoline wissen. Angress zögert. Er mag die großen Worte nicht. "Auch wenn es jetzt pathetisch klingt", sagt er, "ich bin gekommen, um Brücken zu bauen. Nicht nur wegen der Juden, sondern auch wegen der vielen Ausländer, die in Deutschland leben." Manchmal redet er deshalb auch in Schulen über seine Jugenderfahrungen, die er gerade zu einem Buch verarbeitet. Wenn dann jemand fragt, ob es damals keine Ausländer in Deutschland gab, sagt Angress: "Die Ausländer - das waren damals wir."

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