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Sonne in Berlin

© dpa

Frühling in Berlin: Sonnenschmarotzer!

Kaum scheint die Sonne, blockieren die ersten Käsebeine die Liegewiesen. Dabei haben die sich den ganzen Winter nicht im blicken lassen. Ungerecht. Unser Autor fordert ein Stempelsystem. Jetzt!

Es geht mir um Gerechtigkeit. Ein Wort, das mich schon seit der Geburt meines Bruders verfolgt. Warum kriegt der Kleine mehr Nachtisch als ich? Wird er mehr geliebt? Wollen meine Eltern auf diese Weise mein Wachstum stoppen, oder mir den Begriff Ungerechtigkeit näher bringen? Steht mir als Älterem nicht eigentlich mehr Nahrung zu? Warum kriege ich immer Schuld, wenn wir uns streiten?
An Tagen wie diesem, wenn nach längeren Kälteperioden die Sonne rauskommt, schlägt mein Gerechtigkeitskompass Alarm. Suicide-Radfahrer, wohin das Auge blickt. Von denen fühlt sich keiner der Straßenverkehrsordnung verpflichtet. Ich dagegen gebe schon, seit ich mit fünf Jahren Tretroller fuhr, Handzeichen vorm Abbiegen.
Ich sehe die Ökos aus meinem Charlottenburger Kiez sich mit käsigen Beinen auf Liegewiesen räkeln. Durch den Park stolzierende Neureiche mit Sonnenbrillen präsentieren ihre zuckerweißen Zähne, die Scharniere der Ray Bans noch leicht verstaubt. Nach dem Motto: Schaut mich an, ich bewege mich an der frischen Luft und lebe gesund. Frechheit!

Ich zuerst! Max Deibert (20) fordert Gerechtigkeit beim Sonnenbaden.
Ich zuerst! Max Deibert (20) fordert Gerechtigkeit beim Sonnenbaden.

© privat

Als ich vor zwei Wochen bei Graupelschauern mit meinem Hund durch den Schlosspark stapfte und meine Kapuze festhielt, damit der Wind sie mir nicht vom Kopf fegte, da kamen mir gerade mal zwei Menschen entgegen. Heute morgen waren es 200, Touristen nicht mitgerechnet. Für diese Mitbürger sollte der Begriff „Sonnenschmarotzer“ eingeführt werden.

Die Selbstverständlichkeit, mit der sich die Sonnenschmarotzer die besten Sonnenplätze sichern, Picknicks veranstalten, Yoga in Speedo-Badehosen zelebrieren, treibt mich zur Weißglut. Ihr habt euch diesen Platz nicht verdient! Während ich gegen die Naturgewalten ankämpfte, habt ihr den Komfort eurer beheizten Wohnungen genossen und im TUI-Katalog Hotels in Südseeländern angekreuzt. Ich lag schon im Februar auf Liegewiesen und machte Schneeengel, während ihr euch vor dem Kamin an einer Weizenmilch-Latte verschluckt habt.

Stempelmotiv: glücklicher Smiley, geschlechtsneutral

Ich fordere ein Stempelsystem: Wer von Herbst bis Frühjahr in Parks spazierengeht, erhält pro Besuch einen Stempel. Je mehr Stempel du hast, desto mehr Anspruch auf Sonne. Wenn sich das nächste Mal ein halbnackter Sonnenschmarotzer mit Mettbrötchen und 50er Sonnencreme auf meinen Lieblingsplatz neben der Trauerweide pflanzt, vertreibe ich ihn mit meiner prall gefüllten Stempelkarte. Soll er sich doch auf seinem Balkon bräunen. Wer weniger als fünf Stempel hat, darf nicht ausgelassen lachen oder davon schwärmen, wie fabelhaft das Wetter ist. Ich freue mich darauf, den nächsten Sommer in stiller Harmonie mit meinen Waffenbrüdern vom Winter im Schlosspark zu verbringen. Wir werden uns hin und wieder verträumt zunicken, mit dem Gesichtsausdruck jener, die wissen, was sie für ihr Glück getan haben.

Während festgefahrene familiäre Strukturen unmöglich zu ändern sind – mein kleiner Bruder wird wohl noch mit 50 Jahren größere Geschenke zu Weihnachten bekommen als ich –, so sehe ich im Stempelsystem eine Chance, unsere Gesellschaft ein Stück gerechter werden zu lassen. Schon ein einfacher Stempel (Motiv: glücklicher Smiley, geschlechtsneutral) kann zukünftige Generationen von Ganzjahresspaziergängern nachhaltig von ihrem Mut und Durchhaltevermögen profitieren lassen und die selbstdarstellerischen Strukturen, welche seit dem ersten Sonnegenießen um die Vormacht auf deutschen Liegewiesen kämpfen, endgültig auslöschen. Ich will dir nichts vormachen, lieber Leser, es handelt sich um den Kampf zweier Ideologien, der in seiner Komplexität kaum zu erfassen ist. Dennoch ist es an der Zeit, dich zu entscheiden: Wirst du beim nächsten frühsommerlichen Hagelschauer deinen Werbegeschenk-Sonnenschirm zusammenpacken und unter den nächsten Balkon flüchten oder deine Schmarotzerfesseln sprengen und mit mir gemeinsam schlecht gelaunt durch den Park stapfen?

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Max Deibert, 20

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