zum Hauptinhalt
Ika Hügel-Marshall

© Marion Schütt

Nachruf auf Ika Hügel-Marshall : Sollen sie sich doch das Maul zerreißen

Als Kind wird sie in einem evangelischen Heim gequält. Als Erwachsene hilft sie jungen Menschen, wird Feministin und ist beim Start der afrodeutschen Bewegung dabei.

Ika ist aufgeregt. Wie wird es sein, ihren Vater zu sehen, zum ersten Mal in ihrem Leben? Würden sie sich umarmen? Soll sie ihm die Hand geben? Was soll sie sagen? Als Kind hatte sie sich vorgestellt, wie er plötzlich auftaucht, sie in den Arm nimmt und sie zusammen fortgehen. Wenn die anderen Jungs und Mädchen aus dem Kindergarten abgeholt wurden, wartete auch sie an der Tür, hoffend, ihr Vater würde gleich da sein.

Doch er kam nie. Sie wusste nicht einmal, wie er aussah. Jetzt ist sie kein Kind mehr, sondern 46 Jahre alt. Jetzt fährt sie zu ihm, mitten hinein nach Chicago, in die Schwarzeste Nachbarschaft, die es dort gibt. Der Taxifahrer fragt, ob sie sich sicher sei, dass sie in die 57th West Street will.

Bayern, 1946, eine Liebe zwischen einem afroamerikanischen Soldaten und einer 21-jährigen Deutschen. Heimlich treffen sie sich in der Wohnung einer Freundin, ein Abenteuer in eher freudlosen Zeiten. Doch er wird krank, die Armee schickt ihn zurück in die USA. Nicht einmal verabschieden kann er sich. Zurück bleibt die Frau mit Baby im Bauch. Ein sogenanntes „Besatzungskind“ kommt auf die Welt, ein Schwarzes. Eine Schmach. Weggeben soll sie das Kind, und ihr Leben nicht ruinieren!

Das Jugendamt schreitet ein

Schwarz schreiben wir mit einem großen S, weil Ika das später selbst so tut. Es ist ein politischer Begriff, es geht nicht um Schattierungen, sondern darum, eine dunklere Hautfarbe zu beschreiben, die dazu führt, dass ein Mensch diskriminiert wird.

Die Mutter liebt Ika, wie eine Mutter ihr Kind eben liebt. Sollen sie sich doch das Maul zerreißen, die Nachbarn, die Verwandten. Großmutter ist ja auch noch da. Gemeinsam stehen sie das durch, die ersten Jahre jedenfalls. Ika ist ein fröhliches Kind. Lange ist es ihr gar nicht bewusst, dass sie anders aussieht. Sie spielt, lacht, entdeckt die Welt. Die Mutter heiratet, eine Schwester kommt dazu.

Bis das Jugendamt einschreitet: Ein Besatzungskind kann doch nicht Teil einer gesunden Gesellschaft sein, schon gar nicht ein Schwarzes. Ika ist kein Einzelfall. Der Mitarbeiter drängt die Mutter, Ika in ein Heim zu geben. Er verspricht, dass es ihr dort besser gehen würde. Er droht, dass er das vaterlose Kind einfach wegnehmen könne, denn das Jugendamt ist der gesetzliche Vormund.

Irgendwann gibt die Mutter ihren Widerstand auf, setzt sich mit Ika in den Zug, bringt sie in ein frei-evangelisches Heim, „Kinderheimat Gotteshütte“. Es ist wie Urlaub, du spielst mit anderen Kindern, das wird schön, in sechs Wochen bin ich wieder da.

Ohne Abschied ist es am besten, redet Schwester Hildegard der Mutter zu. Als die Mutter plötzlich weg ist, die siebenjährige Ika sie zu suchen beginnt, dabei immer verzweifelter wird und weint und die Welt nicht mehr versteht, zieht Schwester Hildegard ihren Schuh vom Fuß, zieht Ikas Hose herunter und schlägt vor den Augen aller anderen Kinder auf sie ein. So lange, bis Ika aufhört zu weinen. Es ist der schlimmste Tag in ihrem Leben.

Deutsche Kinderheime in den 50er und 60er Jahren sind eine Tortur. Schläge sind normal, Kinder, die nicht folgsam sind, werden in Keller gesperrt. Einmal wird Ika von einem Mädchen aus ihrer Klasse zur Geburtstagsfeier eingeladen. Vor Freude, endlich dazu zu gehören, klatscht sie laut in ihre Hände. Als Strafe fesselt Schwester Hildegard ihr sechs Monate lang jede Nacht die Arme ans Bett. Immer wieder sagen die Schwestern ihr, dass sie, die Dunkelhäutige, dumm, hässlich, unberechenbar sei.

Mit der Wurzelbürste traktieren sie ihre Haut, bis sie blutet, um den Beweis zu erbringen, dass sie nicht aus Schokolade ist. Gedichte, die sie schreibt, Bilder, die sie malt, werden zerrissen. Dass sie sich das Fahrradfahren und Schwimmen selbst beibringt, gute Noten in der Schule bekommt, all das zählt nicht. „Ich bestrafe nicht dich, sondern den Teufel in dir“, sagt Schwester Hildegard. lka lernt, sich zu verstecken, sich hart zu machen, um zu überleben.

Vom Heim kein Wort

In den Sommerferien darf sie nach Hause, endlich. Es sind glückliche Tage. Ein Foto zeigt sie strahlend zwischen Mutter, Großmutter und Schwester, vor sich ein neues Fahrrad, das sie geschenkt bekommen hat. Vom Heim spricht Ika kein Wort. Kein Schatten soll sich über das Glück legen.

Später wird Ika gefragt, ob sie ihrer Mutter böse war. Nein, nie, antwortet sie. Auf der Mutter habe ein enormer Druck gelastet. Sie stand abends vor Ikas leerem Bett, streichelte die Decke und weinte.

Endlich 18. Das Jugendamt hat einen Volksschulabschluss für ausreichend gehalten, jetzt kann Ika den Realschulabschluss nachholen. Doch ihre Lehrerin lässt sie am Ende des Jahres durchfallen, ohne Chance auf Wiederholung. Ika setzt sich zur Wehr; so etwas traut sie sich inzwischen. Die Vertrauenslehrerin kontrolliert alle Klassenarbeiten und stellt fest, dass Ika systematisch zu schlecht bewertet wurde. Sie darf das Jahr noch einmal machen.

Bei der Schulsprecher-Wahl wird auch Ika vorgeschlagen. Nervös geht sie nach vorn, sieht die vielen Augen auf sich gerichtet, erhebt ihre Stimme und stellt sich vor. Ika sei sie, und sie werde sich gegen Ungerechtigkeit und Unfairness einsetzen. Die Schüler wählen sie.

Ika wird Erzieherin, eher zufällig landet sie in einem Frankfurter Kinderheim. Hier herrscht noch der alte Geist, der alte Ton. Aber Ika will es anders machen. Sie erlaubt den Kindern, sie zu duzen. Lässt ihnen im Badezimmer ihre Privatsphäre. Schneidet ihnen nach ihren eigenen Wünschen die Haare. Geschlagen wird nicht.

Aus einer Verwahranstalt möchte sie ein Zuhause machen. Doch die Möglichkeiten der einfachen Erzieherin sind begrenzt. Sie reduziert auf 20 Stunden und studiert Sozialpädagogik. Mit fundiertem Fachwissen kann sie die Heimleiterin herausfordern. Unsinnige Anweisungen befolgt sie nicht, und sie weicht auch nicht, als ihr die Kündigung wegen „Ungehorsamkeit“ angedroht wird.

Wo bleibt die Braut?

Neun Jahre dauert es, bis sie alle Kollegen auf ihre Seite ziehen kann, bis sie familienähnliche Gruppen einführt, bis wohlwollend und liebevoll mit den Kindern umgegangen wird. Es ist mühsam, es kostet Kraft. Nach zwölf Jahren kündigt sie erschöpft. Noch Jahrzehnte später bekommt sie dankbare Briefe von „ihren Kindern“. Manche laden Ika zu sich und ihren Familien ein.

Ika verliebt sich, Orloff Hügel heißt er. In ihrem Lieblingscafe hat sie ihn angesprochen, er bat sie an seinen Tisch. Nach sechs Monaten die Hochzeit. Der Standesbeamte fragt, wo er die Braut gelassen habe. Ika steht daneben. Unvorstellbar, dass einer wie er eine wie sie heiraten würde.

Sie reisen, er kocht, er bringt ihr das Frühstück ans Bett. Doch in der Öffentlichkeit traut er sich kaum, Zärtlichkeiten mit ihr auszutauschen. Die Blicke, die Sprüche. Sie fordert ihn auf, zu ihr zu stehen. Er versteht ihr Problem nicht. Das eine führt zum anderen. Nach sechs Jahre trennen sie sich.

Ende der 70er Jahre, Zeit der Frauenbewegung. Ika gründet erst eine Frauen-WG und dann gleich ein ganzes Frauenhaus mit Bibliothek, Lesesaal und Frauenkneipe. Sie demonstriert gegen den Paragraf 218, für das Recht auf Abtreibung. Nachdem die sozial-liberale Koalition 1974 durchgesetzt hat, dass ein Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen straffrei sein soll, entscheidet das Verfassungsgericht ein Jahr später dagegen. Ika hilft bei der Organisation der sogenannten „Abtreibungsbusse“ nach Holland. Ika fährt mit, berät die Frauen, steht ihnen bei.

Die Bewegung kämpft gegen Unterdrückung und Benachteiligung von Frauen. Um Hautfarben geht es nicht. Wenn Ika sich traut, als einzige Schwarze unter den Feministinnen, das Thema anzubringen, wird sie abgebügelt: Sie solle sich nicht so aufregen. Es könne ja nicht nur um sie gehen. Außerdem gäbe es unter ihnen keinen Rassismus. Dass sie mit Ika befreundet sind, sei doch Beweis genug.

Ika entdeckt einen Taekwondo-Kurs mit Sunny Graff, einer Trainerin aus den USA. Hier geht es nur um den Sport, um den Körper, wie weit man ihn bringen kann. Ika flucht und schwitzt und will aufgeben. Doch ihre Trainerin spornt sie an. Eine Freundschaft erwächst. Zusammen gründen sie einen Kampfsportverein für Frauen und Mädchen, mit Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungskursen. Es gibt ihn heute noch.

Ika und Sunny fliegen zusammen in die USA, Ika nimmt an einem Trainingscamp teil, zertrümmert bei einer offiziellen Zeremonie mehrere Steinplatten und erhält vom Großmeister den ersten Dan überreicht, den schwarzen Gürtel.

Wozu soll sie sich mit anderen Schwarzen treffen?

Wegen Ika bleibt Sunny in Deutschland. Sie gibt Ika einen Zeitungsartikel über Afrodeutsche, die sich in Frankfurt treffen. Afrodeutsche? Davon hatte Ika noch nie gehört. Sie wirft den Artikel weg. Wozu soll sie sich mit anderen Schwarzen treffen? Sie hat Angst vor dem Schmerz, der aufkommen könnte, wenn sie sich mit ihrer Geschichte befassen würde.

Irgendwann geht sie doch zu einem solchen Treffen. Zwölf Frauen und Männer trinken Tee und heißen Ika willkommen. 39 Jahre ist sie alt und fühlt zum ersten Mal eine Art Zugehörigkeit. Einmal pro Woche sitzen sie beisammen, reden, hören zu, bringen Zeitschriften und Bücher heraus. Das verändert Ika. Es gibt ihr die Kraft, sich selbst und ihre Hautfarbe zu akzeptieren, sich zu lieben, wie sie ist. Treffen wie diese gibt es in vielen Städten, es ist der Beginn der „Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland“.

Die Mauer fällt, Ika zieht nach Berlin und geht zum Orlanda Frauenverlag, kümmert sich um die Presse, organisiert Lesereisen und Messeauftritte, sichtet Manuskripte. Im Verlag arbeitet auch Dagmar Schultz. Sie arbeiten zusammen, sie befassen sich mit intellektuellen, politischen Fragen, sie vertrauen einander. Aus einer Freundschaft wird eine Liebe. Ihren Freundinnen berichtet Ika ständig, was Dagmar gerade wieder gemacht habe. Dagmar hier, Dagmar da, Dagmar ist Programm.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Und Dagmar begleitet Ika 1993 zu ihrem Vater. Eine Bekannte in den USA hat seine Adresse ausfindig gemacht, es entstand ein vorsichtiger Briefwechsel. Der Vater freute sich riesig, erzählte seinen Nachbarn, dass er eine Tochter in Deutschland habe. Seine Frau war nicht so begeistert. Immerhin waren die beiden damals schon verheiratet gewesen. Zwei Wochen grollte sie, dann las sie Ikas Briefe, sah die Fotos, die Ika gesendet hat, erkannte die Ähnlichkeit zwischen dieser Frau in Deutschland und ihrem Mann.

Das Taxi hält. Da steht er schon an der Treppe. Zusammen steigen sie die Stufen hoch. In der Wohnung wartet die Familie, seine Frau, die fünf erwachsenen Kinder, Ikas Geschwister also. Sie schauen einander an, suchen nach Ähnlichkeiten. Ika hat die gleichen langen Finger wie er. Hat die gleiche Art, ihren Kopf mit der Hand abzustützen. Sie blättern in Fotoalben. Ihr Foto wurde auch schon reingeklebt und das ihrer Mutter ebenfalls, das einzige weiße Gesicht zwischen all den Seiten.

Ein Jahr später erkrankt der Vater schwer. Ika fliegt noch einmal in die USA, besucht ihn an seinem Krankenbett. Sie halten sich an den Händen, sehen sich in die Augen. Ika spürt seine Liebe. Ein paar Wochen später stirbt er. Ika nimmt seinen Nachnamen an: Marshall. Zwei Jahre kämpft sie, bis ihr die US-amerikanische Staatsbürgerschaft verliehen wird, auch wenn sie dort nicht leben will.

„Daheim unterwegs - ein deutsches Leben“ heißt das Buch, das Ika über ihr Leben schreibt. Ein Akt, der sie viel Mut kostete. Es ist schwer, die Gefühle, Ängste und Unsicherheiten zu offenbaren. Mit dem Buch reist sie um die Welt, in die USA, nach Südafrika, nach Brasilien, und liest aus der englischen Übersetzung vor.

Es folgen Aufsätze, Artikel, Essays, weitere Bücher. Zusammen mit Dagmar dreht sie einen Dokumentarfilm über die Dichterin Audre Lorde, mit der die beiden eng befreundet sind. Ika berät Kinder, Frauen und Familien, in denen die Partner unterschiedlicher Herkunft sind. Sie hilft Eltern, die Kinder mit einer anderen Hautfarbe zur Pflege nehmen. Sie trainiert Frauen, sich zu verteidigen. An der Alice Salomon Fachhochschule unterrichtet sie Beratung in der Sozialarbeit.

Doch das Leben darf nicht nur Kampf sein. So sagt sie es in einem Interview. Ihren frechen Hund liebt sie. Einen, der nur gehorcht, hätte sie gar nicht haben wollen. In ihrem Garten buddeln, gießen und pflanzen Dagmar und Ika, wann immer das Wetter das erlaubt. Und Ika lernt kochen und backen. Bisher konnte sie Dosen öffnen; Spagetti mit Tomatenmark und Zucker gab es oft. Wenn es jetzt ihren Nusskuchen gibt, freuen sich Nachbarn, Freunde, Kinder, die alle ein Stück abbekommen.

Ikas Mutter wird sehr alt. Ika witzelt, dass sie, inzwischen über 70, wohl die älteste Tochter auf der Welt sein muss. Fast jeden Tag telefonieren sie und diskutieren die Lottoergebnisse. Ika besucht sie, so oft sie kann. Als die Mutter schwächer wird, bleiben Ika und ihre Schwester drei Monate an ihrer Seite, bis sie stirbt, mit 94.

Auch für ihre Freunde sorgt Ika. Begleitet einen davon jeden Tag zur Physiotherapie. Kümmert sich um die Kinder anderer. Und sie hört zu, auf ihre ruhige, konzentrierte Art. Gerade Jüngere fühlen sich von ihr verstanden. Wenn sie loslacht, müssen alle mitlachen. Ika malt Bilder voller kräftiger Farben auf Postkarten und auf Leinwände, sie stellt sie aus und verkauft auch welche. Sie erschafft abstrakte Holzskulpturen, ganz glatte Flächen, aus Baumresten. So wie es ist, ist es gut.

Im April stirbt sie, plötzlich und unerwartet. Zu ihrer Beerdigung kommen so viele Menschen, Weiße, Schwarze, alle beieinander, so wie Ika es sich immer gewünscht hat.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false