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Dietlinde Williams

© privat

Nachruf auf Dietlinde Williams: Der Traum vom ganz anderen Leben

„Ich habe so viel gesehen“, seufzte sie gern im Alter, „die ganze Welt – und so viel erlebt.“ Stewardess war sie gewesen, bis sie die Welt zu sich kommen ließ

„Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin.“ Und Stewardessen? Denen steht die Welt ohnehin offen. „Warum Bravsein uns nicht weiterbringt“, war der Untertitel des Ratgebers, der 1994 erschien. Da hatte Dietlinde Williams, die alle nur Linda nannten, längst vorgelebt, was eine Frau kann, wenn sie will.

Elsa, ihre Mutter, war mit Mann und vier Kindern aus Ostpreußen geflohen. Der Mann war ihr lebenslang keine große Stütze, ein Eigenbrötler, der sich Tag für Tag in sein dunkles, verrauchtes Zimmer zurückzog, weil er für sich bleiben wollte. Linda hingegen war ein Wildfang, immer in Bewegung, immer mit wunden Knien, weil sie, die Augen himmelwärts gerichtet, nie auf den Weg vor sich geachtet hat.

Anfang der 60er Jahre wurden Mädchen verheiratet, oder sie lernten einen der sogenannten Frauenberufe: Krankenschwester, Sekretärin, Friseurin. Linda war die Erste aus ihrer Lehrlingsgruppe, die einen mit Rasierschaum versehenen Luftballon mit einem Messer rasieren konnte, ohne dass er platzte. Und sie war sich ganz sicher, dass es das nicht gewesen sein konnte. Wer damals als junges Mädchen dem Alltag entkommen wollte, wurde Au-Pair, mit Glück Au-Pair in Frankreich. Eine Fotografie zeigt sie in Paris, an der Seine sitzend, sehr schlank, sehr elegant, selbstbewusst die Zigarette in der Hand. Sie kam in eine Villa mit Windhunden und reichen Menschen, aber sie hatte das Glück, nicht als Dienstmädchen behandelt zu werden. Sie reiste weiter nach England, fand eine Anstellung und einen Mann.

London in den 60er Jahren war ein wunderbarer Ort, sich zu verlieben, aber kein Ort, um als Hausfrau zu enden. Der Anfang war sehr romantisch, er machte sich älter, als er war, um ihr zu imponieren, sie machte sich jünger, um ihn nicht zu verängstigen, sie gefielen einander sofort und wurden gern Eltern. Aber Linda wollte nicht, was er von ihr wollte: kochen, bügeln, Haushalt führen. Also schnappte sie sich ihren kleinen Sohn Steven und ging zurück zu ihrer Mutter nach Berlin. Ein Frauenhaushalt mit klarer Aufgabenverteilung. Linda kümmerte sich ums Geld, die Oma um die Erziehung. Was für alle drei ein Gewinn war. Denn Linda wurde Stewardess.

Say Yes To The World!

Warum zog es damals so viele selbstbewusste und schöne Frauen in diesen Beruf? Weil er ein Gratisticket in die große weite Welt offerierte. Fliegen war Freiheit. „Catch me if you can!“ Wer den Film mit Leonardo DiCaprio als Hochstapler in Pilotenuniform gesehen hat, hat auch die Stewardessen im Pan-Am-Kostüm vor Augen, die ihm am Flughafen das Geleit geben. Was ihn vor dem Zugriff der FBI-Agenten rettete, denn die wussten nicht, wo ihnen der Kopf stand, beim Anblick dieser Traumfrauen. Das Flair, das Stewardessen umgab, war atemberaubend. Sie waren die Mannequins der Lüfte, die Gangway war der Laufsteg, der bonbonfarbene Sixties-Look kolorierte das Leben auf rauschhaft bunte Weise, und die Rocklänge verhieß ein ganz neues Selbstbewusstsein. „Say Yes To The World!“

Manchem Piloten, der sich als Kapitän der Lüfte sah, stieg das zu Kopf. Aber die Passagiere waren viel manierlicher seinerzeit, und Linda hatte nie Mühe, den Männern die Grenzen aufzuzeigen. Woher das Selbstbewusstsein? Die Welt lag ihr zu Füßen. Reisen emanzipiert schneller als jeder Ratgeber. „Ich habe so viel gesehen“, seufzte sie gern im Alter, „die ganze Welt – und so viel erlebt.“ Amerika, Indien, Afrika, überall war sie gewesen, und immer war auch ein wenig Zeit geblieben für Land und Leute und den kurzen Traum von einem ganz anderen Leben. Sie erhielt Freiflugtickets, also überwinterte Oma Elsa mit dem kleinen Stevie Jahr für Jahr auf den Kanaren, und sie kam regelmäßig zu Besuch, manchmal nur für einen kurzen Stopover, manchmal für länger. Bis die Einschulung anstand und das Leben nach ein wenig mehr Ruhe und Regelmäßigkeit verlangte, vor allem als der Junge in die Pubertät kam. Einen Vater brauchte es da nicht, von Männern als Ernährern hielt Linda ohnehin nicht viel. Männer als Partner auf Zeit hingegen waren geduldet, sofern sie nicht zur Last wurden oder den Ersatzvater spielen wollten. Was das anging, ließ sie sich nicht mehr reinreden.

Sie versuchte sich zunächst im Büro einer Hausverwaltung, was ihr bald zu langweilig wurde, also ging sie in die Gastronomie: Bardame in den Grunewalder Szenetreffs. Was ein wenig ans Fliegen in der First Class erinnerte, denn die Gäste gaben sich gern weltmännisch. Sie kam nach Hause, wenn ihr Sohn zur Schule ging, das konnte nicht gut gehen auf Dauer, also wechselte sie zum Flughafen Tegel. Fluggastkontrolle. Wenn sie nicht mehr hinaus in die Welt konnte, sollte die Welt zur ihr kommen. Und sie kamen alle. Der weltberühmte Geiger, der in Sorge um sein Instrument flehentlich bat, doch ja sorgsam den Geigenkasten zu öffnen. Der weltberühmte Wimbledonsieger, der in Sorge um sein Ego völlig verständnislos darauf reagierte, wie jeder andere behandelt zu werden. Solche hochnäsigen „doofen Fluchgäste“ mochte sie nicht, da war sie sehr direkt, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Was ihr dabei half: Sie konnte rasch die Perspektiven wechseln, was vielleicht die vier Dutzend Brillen erklärt, die sie sich im Lauf der Jahre zulegte.

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Als Tegel schloss, brach ihr ein wenig das Herz. Aber mit ihrer Gesundheit stand es ohnehin nicht zum Besten. Fliegen barg Risiken. Mal war es ein brennender Reifen gewesen, der das Flugzeug ins Schlingern brachte, mal ein Kugelblitz, der die Kabine in gleißendes Licht tauchte. In den Anfangsjahren war die Benzolbelastung in der Kabine sehr hoch, die Höhenstrahlung auf Langstreckenflügen setzte vielen zu. Einige ihrer liebsten Kolleginnen waren an Blutkrebs erkrankt.

Linda war vorbereitet darauf, durch einen Traum. Sie war eingeschlafen im Sessel, und plötzlich stand Oma Elsa da. Sie wollte aufstehen und zu ihr gehen. Jetzt noch nicht, sagte Elsa da. Ein halbes Jahr später kam die Diagnose: Leukämie. Als ihr Sohn ihre Hand hielt, daheim, am Bett, bevor sie ein letztes Mal ins Krankenhaus musste, weinte er: „Wahrscheinlich wirst du diese Weihnachten schon mit Oma feiern und nicht mit uns.“ – „Das ist doch schön“, tröstete sie ihn. Als es dann zu Ende ging, hat sie nicht auf ihn gewartet mit dem Sterben. Es war ihre Entscheidung. Es war immer ihre Entscheidung.

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