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Kiezpolizei

© Uwe Steinert

Kiezpolizei: Damit die Sitten nicht verlottern

Die Kiezpolizisten sind zurück. Doch für Bürgernähe fehlt die Zeit. Unterwegs mit einer Kontaktbereichsbeamtin in Lichtenrade.

Heute ist Wandertag für Birgit Liedtke. Sie packt einen Stapel Broschüren in ihre Umhängetasche, setzt die Dienstmütze auf und läuft die abgewetzte Treppe im Polizeigebäude runter. Von der backsteinernen Wache am Lichtenrader Damm will sie zuerst zum Seniorenheim, dann zum Bürgeramt und weiter zu einem Hausmeister, bevor sie in der Bahnhofstraße mal wieder nach dem Rechten sieht. Präventiv und bürgernah. So, wie es der Polizeipräsident im März angekündigt hat, als er die Wiederauferstehung des Kontaktbereichsbeamten (Kob), älteren Berlinern erinnerlich als Freund und Helfer, bekannt gab. So sollte wieder mehr Grün auf die Straßen. Freundliches Grün – wie Birgit Liedtke. Im September soll eine erste Bilanz gezogen werden. In der Pressestelle der Polizei heißt es vorab nur kurz, dass die Sache sich gut angelassen habe. Die Antwort von Birgit Liedtke fällt etwas länger aus.

46 Jahre ist die Hauptkommissarin alt, 27 davon arbeitet sie bei der Berliner Polizei. Ihr Kontaktbereich ist eine ruhige Wohngegend, ganz unten rechts in Lichtenrade, etwa einen Kilometer hoch und knapp einen breit. Einer von 1021 in Berlin. Und zurzeit einer von vieren in Birgit Liedtkes Obhut, weil ein Kollege krank ist und einer im Urlaub und einer seit vergangenem Jahr pensioniert, aber mangels Personal ohne Nachfolger. Als sie die Wache verlassen hat, haben die drei Kollegen unten am Empfang gerade spaßeshalber ihre Lebensjahre addiert: 168 Jahre. Nach kurzem Gelächter haben sie sehr ernst hinzugefügt, dass ihnen durch den erst kürzlich aufgehobenen dreijährigen Einstellungsstopp eine ganze Generation junger Kollegen verloren gegangen sei. Ein anderer Kollege hat erzählt, dass er statt der früher üblichen Zwölfstundenschichten jetzt kürzer, aber deutlich öfter Dienst habe, so dass weniger Zeit für die Familie bleibe, zumal bei 42 Wochenstunden. Und dass die Chancen auf Beförderung gesunken seien, während die Wahrscheinlichkeit, dass Verkehrssünder oder Kleinkriminelle ihm dumm kämen, zugenommen habe.

Birgit Liedtke hält die Augen offen: Höhe Hausnummer 66 müsste ein Auto stehen, dessen Besitzer die Kfz- Steuer nicht bezahlt hat, so dass die Nummernschilder „entstempelt“ werden sollen – also die Plakette mit dem Bären abgekratzt, was das Nummernschild ungültig macht. Der Auftrag kam vom Finanzamt. Nur steht das Auto nicht da. Dafür drei Häuser weiter ein alter Audi ohne Nummernschilder. Birgit Liedtke klebt einen gelben Punkt mit Hinweisen für den Besitzer drauf, damit der das Auto wegräumt, bevor es entsorgt wird.

„Lieb, dass Sie gleich vorbeikommen“, sagt die Frau, die die Polizistin im Pflegeheim empfängt. Birgit Liedtke nimmt einen Stapel Ausweise und Formulare entgegen, mit denen sie neue, gebrechliche Heimbewohner im Bürgeramt anmeldet. Dafür lässt sie einen Stapel Faltblätter da, in denen steht, wie sich Senioren vor Kriminellen schützen können. Die Pflegerin erzählt, dass einer Bewohnerin gerade fünf Euro abhanden gekommen seien. Genaueres weiß sie nicht. Und eine Frau, die gerade zufällig hier ist, will mit der Polizistin über einen Stalking-Fall reden. Die Beamtin erklärt ihr die Rechtslage, lässt ihre Visitenkarte da – und kann guten Gewissens weitergehen, weil in dem Fall schon jemand Anzeige erstattet hat.

Eine halbe Stunde später ist die Bahnhofstraße erreicht. Birgit Liedtke hat zwischendurch einen Falschparker aufgeschrieben, aus dem Augenwinkel einige Dutzend Parkscheiben und Tüv-Plaketten auf Gültigkeit kontrolliert und einem Peugeot-Fahrer tief in die Augen geschaut, der im Halteverbot stand. Dann hat sie ihn fahren lassen, weil er nur kurz seine Frau aussteigen lassen und niemanden behindert hat. „Ich will nicht aufdringlich sein“, sagt Birgit Liedtke. Sie redet lieber mit den Leuten, statt mit dem Knöllchenblock auf und ab zu gehen. Und weil sie nicht so redet, wie Polizisten manchmal reden, sondern ganz normal, wird ihr auch zugehört. Manche grüßen freundlich, wie die Verkäuferin am Blumenstand, andere mustern sie skeptisch, und einer, der mitten im Weg steht, bleibt demonstrativ ebendort. „Das passiert einem nur mit Uniform“, sagt die Polizistin und lacht grimmig.

Im Bürgeramt hängt ein Zettel, dass wegen der Einführung eines neuen Betriebssystems mit wesentlich längeren Wartezeiten zu rechnen sei. Im Moment sitzen etwa 30 Bürger im Wartezimmer. Birgit Liedtke gibt einer Bearbeiterin die Papiere aus dem Pflegeheim und geht wieder die Bahnhofstraße zurück. Gerade hier wäre sie gern öfter – einfach, um Präsenz zu zeigen, damit nicht bei Dunkelgelb über Ampeln gefahren wird oder in zweiter Reihe geparkt. Oder vielleicht noch Autos aufgebrochen werden. Es gibt keine ausgesprochenen Brennpunkte in Lichtenrade, aber Birgit Liedtke hat das Gefühl, dass die Sitten verlottern, wenn man sich nicht regelmäßig blicken lässt. Sie will jetzt weiter, noch ein paar Hausmeister treffen, weil ein guter Draht zu Hausmeistern das Polizistenleben sehr erleichtern kann. Schon, weil es einen Riesenunterschied macht, ob im Ernstfall die Frau Liedtke gelaufen kommt oder ein unbekannter Beamter aus dem Auto steigt.

Der Personalrat hat für die Direktion vier im Berliner Süden ausgerechnet, dass ein Durchschnitts-Kob nur etwa sieben Stunden pro Woche auf den Straßen unterwegs ist. Dieser Wert scheint Birgit Liedtke realistisch, bei der die sieben Stunden momentan durch vier Kontaktbereiche zu teilen wären. „Ich bin lieber draußen bei den Bürgern als drin in der Bearbeitung“, sagt sie. Aber seit dem 1999 eingeführten „Berliner Modell“ sind sie und ihre Kollegen eben auch für die Bearbeitung von Strafanzeigen zuständig, um die sich vorher die Kripo gekümmert hat. Wenn kein Papierkram anliegt, müssen die Streifenwagen für Notrufe besetzt sein oder Verkehrskontrollen gemacht werden oder Kreuzungen geregelt werden, weil wieder irgendwo eine Ampel repariert wird. Die Beamten auf der Wache müssen also Freunde und Helfer für Bürgeramt und Pflegeheim und Finanzamt und in Not Geratene sein. Dabei wären sie es auch gern für die ganz normale Bürger, aber wie sie auch an der Personaldecke herumzerren: Sie wird nicht länger, sondern legt nur immer andere Stellen frei. So kommt es, dass Birgit Liedtke im Außendienst am häufigsten diesen Satz hört: „Ich dachte, es gibt gar keine Kontaktbereichsbeamten mehr.“

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