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Torben P. vor Gericht.

© dapd

Update

Prozess gegen Torben P.: Gutachterin: "Er hat leiden müssen"

Der wegen versuchten Totschlags angeklagte U-Bahnschläger Torben P. war bei seiner Tat möglicherweise nur vermindert schuldfähig.

„Ich kann nicht ausschließen, dass die Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt erheblich eingeschränkt war“, sagte die als psychiatrische Sachverständige geladene Gutachterin Cornelia Mikolaiczyk am Dienstag vor dem Landgericht Berlin. Infolge seines Alkoholkonsums habe der Angeklagte womöglich „nicht realisiert“, dass der Geschädigte wehrlos am Boden liege. Die Videobilder hätten Torben „deutlich enthemmt“ und mit Koordinationsstörungen gezeigt. Als Konsequenz könnte die Strafe gemildert werden. Dem 18-jährigen Schüler wird vorgeworfen, am Karsamstag auf dem U-Bahnhof Friedrichstraße einen Mann geschlagen und gegen den Kopf getreten zu haben. Dem mitangeklagten gleichaltrigen Nico A. wird Körperverletzung und unterlassene Hilfeleistung vorgeworfen; er hatte einen Mann angegriffen, der zu Hilfe geeilt war.

Mikolaiczyk hatte Torben P. zehn Stunden untersucht. Sie habe den Angeklagten in einer „schwierigen Situation“ für sich und seine Familie angetroffen, ausgelöst von der massiven Medienberichterstattung. Er habe zunächst nur stockend berichten können, sei gereizt und ablehnend gewesen.

Es sei deutlich geworden, dass er zwischenmenschliche Interaktion „unter dem Aspekt des Machtkampfes“ wahrnehme. Auffällig sei gewesen,  dass er sehr starke familiäre Belastungsmomente wie die Krankheiten der Eltern nicht herausgestellt habe. Die Eltern sind beide Frührentner, sie leiden unter schwerer Diabetes, der Vater auch unter Parkinson – er saß zeitweilig im Rollstuhl – die Mutter unter Depressionen. Zudem hatte die Familie in beengten Verhältnissen die demente Großmutter für Jahre aufgenommen und gepflegt.

Lesen Sie auf weiter auf Seite 2, wie das Thema Krankheiten den Alltag des Angeklagten bestimmte.

Torben sei in der Lage gewesen, seine Person selbstkritisch zu reflektieren, „das erlebt man nicht sehr häufig in solchen Fällen“, sagte die Gutachterin. Deutlich sei aber geworden, dass er gegenüber den Eltern, die er als „symbiotische Einheit“ erlebt habe und die zeitweilig nur im Bett lagen, Unterlegenheitsgefühle entwickelte, besonders gegenüber dem Vater, den er auch aufbrausend kannte. Bei einem weiteren Gespräch sei der junge Mann dann „wie abgeschnitten“ gewesen, habe von seiner Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit gesprochen. Torben habe geschockt reagiert, als er mit der Ärztin die Videos ansah, in denen er ins Gleisbett herabsteigt und mit Schotter  schmeißt. Er sei entsetzt von sich selbst aus der Praxis geflüchtet, sie habe ihn suchen müssen. „Das erlebt man auch nicht häufig“.

Torben P. sei in diesen Situationen „schwerwiegend latent suizidgefährdet“ gewesen, er sei  auch zuvor phasenweise „depressiv-ängstlich“ gewesen, habe wenig Selbstvertrauen und starke Selbstzweifel. Er sei eher überdurchschnittlich intelligent, bleibe aber labil und noch unreif. Tests hätten einen hohen Wert bei der Selbstaggression gezeigt, insgesamt habe er eine „erhöhte aggressive Reaktionsbereitschaft“, die sich mit starken Schuldgefühlen abwechsle. 

Im Elternhaus seien die Krankheiten der Eltern „täglich präsent“ gewesen, zugleich galt es jedoch als Tabu, darüber zu reden. „Man war gemeinsam und fürsorglich, aber es war auch jeder vereinzelt und für sich.“ Die Eltern hätten sich gekümmert, aber die Krankheiten hätten den Alltag „an allen Ecken und Enden“ bestimmt. „Er hat leiden müssen,“ sagte die Ärztin. Hinter vielen Fehlzeiten des Jungen in der Schule stecke eine depressive Symptomatik, Torben habe schon früher Suizidgedanken entwickelt. Die Eltern seien aber erst alarmiert gewesen, als sich der Junge im Sportinternat „von oben bis unten“ mit einem Messer selbst verletzt hätte.

Mikolaiczyk spricht von einer „schweren depressiven Episode“ Torbens als Reaktion auf das Tatgeschehen und errechnete für den Tatzeitpunkt einen Alkoholgehalt im Blut des Angeklagten von 3,1 bis 3,6 Promille. Ein völliger Kontrollverlust zeige sich aber nicht: Nico A. und er hätten angemessen reagiert, als sie von einem Mann Minuten vor der Tat angesprochen worden seien. Die Gutachterin geht davon aus, dass Torben P. trotz Volljährigkeit in seiner Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichzusetzen sei. Dies könnte eine Anwendung des milderen Jugendstrafrechts bedeuten.  Dem mitangeklagten Nico A. attestierte Mikolaiczyk ein „problematisches Alkoholverhalten“, es läge aber weder eine Sucht noch eine psychische Störung vor. Am Donnerstag werden die Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung erwartet, das Urteil soll am 19. September verkündet werden.

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