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Schule: Die Zeit vor dem Crash nutzen

Pre-Safe-Systeme von Mercedes werden schon vor dem Unfall aktiv

Von Ingo von Dahlern

Unfallfreises Autofahren – diese Vision ist durchaus legitim. Doch Realität kann sie schwerlich werden, selbst wenn unsere Autos in einem kaum vollstellbaren Maß perfektioniert werden sollten. Denn so lange noch Menschen das Fahrzeug steuern und dabei immer wieder Fehler machen oder nicht beeinflussbare Naturereignisse die Bedingungen, unter denen gefahren wird, zeitweise extrem verschlechtern, wird es Unfälle geben. Doch deren Zahl lässt sich, wie die vergangenen Jahrzehnte beweisen, drastisch verringern. Und nicht nur das. Verringern lassen sich auch die Folgen jener Unfälle, die sich nun einmal nicht vermeiden lassen – durch noch raffiniertere Systeme und Techniken, die die aktive und vor allem auch die passive Sicherheit weiter verbessern.

Einen ganz entscheidenden Schritt nach vorn auf diesem von solchen Entwicklungen wie Sicherheitskarosserien mit Knautschzone, Dreipunktgurten mit Gurtstraffern und Gurtkraftbegrenzern, Airbags nicht nur vorn sondern auch an den Seiten und für die Fenster markierten Weg geht jetzt Mercedes-Benz mit seiner sorgfältig überarbeiteten S-Klasse. Denn zu den dabei verwirklichten Innovationen gehört das neue Insassenschutzsystem Pre-Safe – ein System, das, wie schon sein zeigt, bereits aktiv wird, bevor es zum eigentlichen Crash kommt, ein System also, das vorausschauend eine unfallträchtige Situation erkennt und dafür sorgt, dass die Passagiere, die wenige Sekunden später zu verunglücken drohen, noch besser geschützt sind als bislang.

Ein ganz neuer Ansatz

Dieses Ziel wird allerdings nicht dadurch erreicht, dass man das Auto mit noch mehr Airbags vollstopft, noch mehr Verstärkungen einerseits und genau berechnete Lastpfade andererseits in der Karosserie verwirklicht – auf dem gewohnten Trampelpfad der passiven Sicherheit noch perfekter zu werden versucht. Pre-Safe verfolgt einen ganz anderen und zugleich einen ganz neuen Ansatz. Denn hier werden erstmals Systeme der aktiven Sicherheit mit denen der passiven Sicherheit vernetzt. Und das auf einem eigentlich ganz einfachen Weg.

Denn ein Auto, das mit Antiblockiersystem, Fahrdynamikregelung und Bremsassistent ausgestattet ist, sammelt mit den für diese Systeme aktiven Sensoren eine Fülle von Daten, die sich auch nach ganz anderen Regeln auswerten lassen, als für ABS, ESP und BAS erforderlich. Dann liefern sie plötzlich Informationen, mit denen sich ganz neue Dinge machen lassen – zum Beispiel Gurte vorsorglich spannen und Sitzpositionen so verändern, um Personen, denen ein Crash droht, in Positionen zu bringen, in denen die bekannten Sicherheitssysteme noch wirksamer sind.

Das alles verlangt vergleichsweise wenig zusätzliche Technik – aber dafür erheblich mehr Rechenaufwand. Denn aus den Daten der Assistenzsysteme muss nicht nur errechnet werden, wie durch optimales Bremsen auch einzelner Räder und Zurücknehmen der Motorleistung ein Fahrzeug, das vom Kurs abzukommen doht, wieder auf diesen Kurs gebracht wird. Unter Pre-Safe-Gesichtspunkten gilt es aus diesen Daten darüber hinaus zu erkennen, ob sich das Auto in einer unfallträchtigen Situation befindet und ob ein Unfall unvermeidbar ist. Und wenn das System zu dem Ergebnis kommt, dass die gemessenen Schleuderbewegungen, Lenkmanöver und Bremsversuche mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem Unfall enden werden, gilt es die oft mehrere Sekunden Zeit vor dem tatsächlichen Crash zu nutzen, um die Ausgangsposition der Passagiere, die gleich verunglücken werden, zu verbessern.

Dafür allerdings braucht man Systeme, die reversibel sind. Auf Verdacht, auch wenn er noch so begründet ist, einen pyrotechnischen Gurtstraffer oder gar einen Airbag auszulösen, das geht nicht. Aber die Gurte so zu straffen, dass beim Schleudern des Fahrzeugs der Fahrer zum Beispiel so auf seinem Sitz fixiert wird, dass seine Bewegungen zur Seite um bis zu 30 Zentimeter veringert werden, das ist durchaus hilfreich. Das gilt auch für Beifahrer, die bei einer unerwarteten Notbremsung so fixiert werden, dass sie bis zu 15 Zentimeter weniger nach vorn geschleudert werden – wertvoller Sicherheitsabstand für den Fall, dass es gleich darauf kracht. Und wenn dann in den Sekunden vor dem Aufprall auch noch die sehr flache stehende Sitzlehne steiler gestellt, ein zu weit nach vorn geschobener Sitz zurück gefahren und die Sitzkissenneigung so verändert wird, dass die Gefahr des Durchtauchens unterm Gurt beim Aufprall verringert wird – dann verbessert das rundum die Chancen, einen Unfall mit weniger Verletzungen zu überstehen. Dazu gehört auch, dass bei Autos mit Schiebedach das Dach vorsorglich geschlossen wird.

Und sollte es dem Fahrzeuglenker in letzter Sekunde noch gelingen, den Unfall abzuwenden, dann geben die vorsorglich aktivierten Gurtstraffer Fahrer und Passagiere wieder frei. Genau so erlebten wir es dieser Tage auf dem Fahrsimulator von DaimlerChrysler im Berlin-Marienfelde – jenem wegweisenden Forschungsgerät, über das wir schon mehrfach berichtet haben und das bei der Entwicklung der Pre-Safe-Techniken eine entscheidende Rolle gespielt hat. Denn hier kann man, ohne die am Steuer sitzenden Menschen in echte Gefahr zu bringen, unfallträchtigere Situationen simulieren. So gerieten wir in einer zügig gefahrenen Linkskurve wegen plötzlicher Glätte ins Schleudern. Sekundenbruchteile später fixierten uns die elektrisch betriebenen Gurtstraffer auf unserem Sitz. Und als wir nach ein paar Lenkmanövern die kritische Situation gemeistert, das Fahrzeug mit ESP-Unterstützung wieder auf Kurs gebracht hatten, wurden die Gurte wieder gelöst – um kurz darauf noch einmal zuzupacken, als ein entgegenkommendes Fahrzeug plötzlich auf unsere Spur fuhr und ein schnelles Ausweichmanöver verlangte.

Unser erster Eindruck von Pre-Safe – das System funktioniert zuverlässig, ohne den Fahrer dabei zu behindern und bedeutet einen ernst zu nehmenden Zuwachs an Sicherheit. So sah das auch die Mehrzahl der Probanden, die im Simulator erstmals diese neue Technik kennenlernten. Erstmals eingesetzt wird Pre-Safe, wie bereits erwähnt, in der überarbeitetenn S-Klasse, die in diesem Herbst auf den Markt kommt. Deren Sicherheitsausstattung wird zugleich um einige Elemente erweitert, die in eine ganz andere Richtung zielen – die Individualisierung der Sicherheitssysteme im Fahrzeug. Das bedeutet, dass zum Beispiel die Funktion der Gurte und ihrer Spanner oder das Aufblasen der Airbags individuell an die tatsächlich im Fahrzeug sitzenden Personen angepasst wird – ebenso wie man zum Beispiel die Sicherheitsbindung eines Skis an den jeweiligen Benutzer anpasst.

Automatische Gewichtsbestimmung

Das setzt natürlich voraus, dass die Sicherheitssysteme über die nötigen Informationen über die Insassen verfügen. Einen ersten Schritt in diese Richtung bedeutet zum Beispiel die automatische Gewichtsbestimmung des Beifahrers mit Hilfe einer Spezialfolie im Sitzpolster, die derzeit drei Gewichtsklassen erkennt und danach entscheidet, wann und in welchen Stufen Gurtstraffer und Beifahrer-Airbag ausgelöst werden, um diesen in der jeweiligen Unfallsituation optimal zu schützen. Künftig ist es durchaus denkbar, dass für die Sicherheitssysteme auch andere individuelle Daten der jeweiligen Fahrzeugbenutzer gespeichert und aktiviert werden, sobald diese Platz genommen haben. Denn die biomechanischen Belastungen, die einem jungen Fahrer zumutbar sind, ohne dass es zu Verletzungen kommt, sind höher als bei einem älteren Fahrer. Wenn das Systen also mit Hilfe einer Chipkarte erkennt, wer vorn sitzt und wie belastbar der ist, könnten die Sicherheitssysteme das im Fall eine Falles berücksichtigen, um somit optimal zu schützen.

Das gelingt natürlich immer nur im Rahmen der Gesetze der Physik. Deshalb kann auch das beste System keinen Fahrzeuglenker von seiner Verantwortung für sein Fahrzeug und seine Passagiere befreien. Aber alle Systeme können ihn unterstützen, wenn er, und das tut jeder Mensch, Fehler macht. Die Fortschritte auf diesem Gebiet sind beachtlich und hier liegt, wie die Ansätze zu Pre-Safe und zur Individualisierung der Sicherheitssysteme zeigen, noch eine Menge Arbeit von den damit befassten Wissenschaftlern und Ingenieuren.

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