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Ergotherapie: Fitmacher für die Schule

Immer mehr Vorschulkinder haben Sprach- und Bewegungsdefizite. Ihre Familien trainieren mit Hilfe von Therapeuten und Kita-Mitarbeitern.

Steinbrocken fliegen aus dem Vulkanschlund. Ein roter Lavastrom wälzt sich in der Reinickendorfer Praxis für Ergotherapie zu Boden. Jana, fünf Jahre alt, steht auf einem Hocker und malt den feuerspuckenden Berg auf ein meterhohes Papier an der Wand. Schwungvoll pinselt sie drauflos, um so lockerer, desto besser. Zu Hause haben Janas Eltern viel zu selten mit ihr gemalt, gebastelt, gekocht oder andere Arbeiten erledigt, bei denen sie Fingerfertigkeiten üben konnte – um entspannt einen Pinsel oder die Schere zu führen. Dabei ist ihr ganzer Körper verkrampft. Nun soll sie sich in der Therapie erst einmal großflächig austoben und gelöster werden. „Später bemalen wir dann immer kleinere Flächen“, sagt Therapeutin Irma Schmidt (Name von der Redaktion geändert).

Jana gehört zu jenen Kindern in Berlin, die zu Hause in ihrer Familie zu wenig gefördert werden. Die Kita konnte diesen Mangel nicht genug ausgleichen. Nun soll die Ergotherapie das Mädchen möglichst rundherum für die Schule fit machen. Sie lernt beim Schaukeln in einer Hängematte, Kräfte gezielt einzusetzen. Sie übt rückwärts Hüpfen, Geschichten erzählen, sich an Regeln halten, sich bei Aufgaben zu konzentrieren. Und die Eltern werden in die Therapie mit einbezogen, damit sie Jana künftig daheim mehr fördern können. „Es ist erschreckend, wie viele Mütter und Väter all dies vernachlässigen“, sagt Irma Schmidt.

Dass immer mehr Vorschulkinder, besonders aus sozial schwachen Familien, dadurch Bewegungs- und Sprachdefizite haben, zeigt auch die Warteliste der Reinickendorfer Praxis. Wie berichtet, bekommt bereits jedes vierte Berliner Kind zwischen zwei und sechs Jahren eine logopädische oder ergotherapeutische Therapie verordnet. Alleine von Januar bis September 2009 bezahlten die Kassen in Berlin rund 19 000 Ergotherapien und 17 000 Sprachtherapien für diese Altersgruppen.

Ein Großteil dieser Mädchen und Jungen müssten allerdings gar keine kostspielige Therapie besuchen, würden sie zu Hause und in ihren Kitas frühzeitig sprachlich und körperlich besser gefördert. Nach Expertenschätzungen haben nur ein Drittel bis die Hälfte der in Therapien geschickten Kinder derart krankhafte Störungen, dass sie auf jeden Fall die Hilfe geschulter Therapeuten benötigen. Wie bei Legasthenie kann auch bei diesen Schwächen selbst die beste Förderung von Eltern und Erziehern alleine nichts verbessern. Sie sind überfordert. Doch bei vielen anderen Kindern, die nur unzureichend gefördert werden, ließe sich vorbeugend verhindern, dass sie zum Therapiefall werden. Bei ihnen dient die Therapie oft als letzte Nothilfe vor dem Schulstart. Was muss in den Familien und Kitas passieren, um das zu ändern?

Von seiten der Wissenschaft bekommen Berlins Kitas erst einmal recht gute Noten. „Es gibt dort eine bunte Mischung engagiert durchgeführter Sprach- und Bewegungsprojekte, die auch die Eltern mit einbeziehen“, sagt Professorin Astrid Fröhling vom Institut für Patholinguistik der Uni Potsdam. Die Tagesstätten in Spandau, Reinickendorf und Charlottenburg-Wilmersdorf haben sich beispielsweise für das Programm „Kon-Lab“ entschieden. Ein Sprechtraining für Kinder und Familien, ergänzt durch Erzieher-Fortbildungen und Coaching. In Steglitz-Zehlendorf und Tempelhof-Schöneberg gibt es Kitas, die ihren Schwerpunkt auf „Bewegung mit Kindern“ legen.

Doch trotz allem Einsatz werden in Berlin offenbar noch immer zahlreiche Kinder viel zu spät gezielt gefördert oder, falls nötig, in eine Therapie überwiesen. Mit dem Argument, es verwächst sich’, warteten Eltern und Ärzte oft zu lange ab, sagt die Vorsitzende des Verbandes der Berliner Logopäden, Annette Schneider. Selbst bei den Einschulungsuntersuchungen würden häufig Defizite übersehen. Erzieher und Amtsärzte müssten besser auf Früherkennung geschult werden. Aus Sicht von Kita-Pädagogen sollten die Tagesstätten zudem Eltern noch umfassender in die Förderprojekte einbeziehen. „Die Kita als Familienzentrum“ schwebt ihnen als Ideal vor. Auch Therapeuten sollten möglichst in die Tagesstätten kommen, „damit die Kinder nicht ständig hin- und hergefahren und aus ihrem Alltag gerissen werden müssen“, sagt Pädagogik-Koordinator Harald Bohn von den Kitas im Nordwesten Berlins. Aber all diese Wünsche sind bislang nur vereinzelt Realität. Meist scheitern sie am Geld, an zu großen Gruppen, an Personalnot.

Der Alltag ist auch für die Experten des Potsdamer Instituts für Patholinguistik ein wichtiges Stichwort. Sie halten nichts von Kita-Projekten, bei denen förderungsbedürftige Kinder einzeln oder in Gruppen separat trainiert werden. „Das sollte ständig im gewohnten Alltag passieren“, sagt Professorin Astrid Fröhling. Erzieher und Eltern müssten sich dessen bewusst und entsprechend kommunikationsfreudig sein. Fröhling: „Kinder brauchen eine lebendige, anregungsreiche Familie und Kita.“Christoph Stollowsky

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