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Geschichte: Langsame Annäherung an den Deutschen Herbst

30 Jahre Schleyer-Entführung: In den Lehrplänen taucht die RAF nicht auf. Aber die Schulen können das Thema freiwillig behandeln.

Kaufhausbrände, Sprengstoffanschläge, Buback-Attentat, Schleyer-Ermordung – Ereignisse, die für den Terror der Roten Armee Fraktion (RAF) stehen. Mehr als 30 Morde erschütterten die Bundesrepublik. 1977 erlebte der RAF-Terror im „Deutschen Herbst“ seinen Höhepunkt. 30 Jahre später bewegt die Debatte um die Aufarbeitung dieses Teils der jüngeren deutschen Geschichte noch einmal die Gesellschaft. Morgen jährt sich die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer zum 30. Mal. Nicht zuletzt die Diskussion über Christian Klars mögliche Begnadigung hatte schon im Frühjahr bei vielen Jugendlichen das Interesse an der RAF und den Umgang mit den letzten RAF-Häftlingen geweckt. Doch was erfahren Schüler im Unterricht über dieses brisante Thema?

„Das Thema RAF haben wir bisher nicht behandelt“, sagt Jakob Teßmer, 17, vom Friedrichshagener Gerhart-Hauptmann-Gymnasium. Wie dem Elftklässler Jakob geht es vielen Schülern. Wenn das Thema im Geschichtsunterricht besprochen wird, dann meist kurz. „Wir haben die RAF nur durch ein Schülerreferat kennengelernt“, erinnern sich die Elftklässler Enno Strudthoff und Loryn Fechner (beide 17) vom Charlottenburger Herder-Gymnasium. Es gibt auch Schüler, die trotz der aktuellen Diskussionen noch gar nichts über das Thema gehört haben. So können viele Zehntklässler selbst die Abkürzung RAF „gar nicht zuordnen“. Eigentlich sollte der Geschichtsunterricht am Ende der zehnten Klasse in die Gegenwart führen. Das ist vor allem wichtig für diejenigen, die nach der zehnten Klasse die Schule verlassen. Doch die Realität sieht anders aus.

„Wir sind im Geschichtsunterricht in der zehnten Klasse im Nationalsozialismus stecken geblieben“, erzählt Zwölftklässlern Mujkic Amra, 18, vom Tiergartener Menzel-Gymnasium. Der Nationalsozialismus sollte laut Rahmenlehrplan in der neunten Klasse abgeschlossen werden. Die RAF oder die politischen Radikalisierungen nach den Studentenunruhen der späten 60er-Jahre werden im Rahmenlehrplan Geschichte gar nicht genannt. Die 70er- und 80er-Jahre nehmen sowieso nicht viel Raum ein.

„Wir können nicht alle Themen vorschreiben“, sagt Reinhold Reitschuster, Referent für Gesellschaftswissenschaften der Senatsverwaltung für Bildung. Bei der permanenten Zunahme von geschichtlichen Ereignissen komme es im Unterricht mehr auf die Ausbildung von Kompetenzen an, also beispielsweise analytischen Fähigkeiten. Allerdings gibt die Schulbehörde vor, dass aktuelle politische Probleme aufgegriffen werden müssen. Aus dem gewöhnlichen Unterricht wird dann eine „aktuelle Stunde“.

So geschehen am Menzel-Gymnasium, als im Frühjahr die Diskussion um die Freilassung von Brigitte Mohnhaupt thematisiert wurde. „Wir haben dazu spontan eine Podiumsdiskussion im Fach Politikwissenschaft durchgeführt“, erinnert sich Abiturientin Ceylan Sarica, 19. Wie in einer politischen Talkshow hatten sie im Politik-Grundkurs debattiert, ob man für oder gegen die Freilassung der RAF-Aktivisten sein solle. Dazu hatten sie für eine Doppelstunde lang den Klassenraum verändert, es gab Tische mit Pro- und Kontraexperten, einen Moderatoren. Die übrigen Schüler waren die Zuschauer, die am Ende abstimmen konnten. Ceylan argumentierte für die Freilassung der Häftlinge; am Ende der Diskussion war jedoch fast der gesamte Politikwissenschaftskurs gegen die Amnestie der Ex-Terroristen.

Der Terror der RAF könne exemplarisch mit aktuellen internationalen Terrorismusströmungen im Sozialkunde-, Politikwissenschafts- oder Geschichtsunterricht verglichen werden, meint Reitschuster. Angesichts der Stofffülle sei allerdings für viele wichtige Themen im Unterricht oft kein ausreichender Platz, gibt Reitschuster zu. Auch das neue Fach Ethik geht zulasten der Gesellschaftswissenschaften.

Manchmal entdecken Schüler deshalb das Thema RAF außerhalb des Unterrichts. „Ich hatte zufällig eine Biografie von Ulrike Meinhof in der Hand“, berichtet Zehntklässlerin Lucie, 15, vom Neuköllner Albrecht-Dürer-Gymnasium. Sie wollte „unbedingt ihr Halbwissen ergänzen“. Die Biografie gab sie ihren Freundinnen Johanna und Silvia. Die drei waren von dem Buch so beeindruckt, dass sie RAF als Thema für den Mittleren Schulabschluss wählten. Die Mädchen teilten ihre Powerpoint-Präsentation auf: RAF im Spiegel der Medien, das politische Klima in der Bundesrepublik und die Folgen des Deutschen Herbstes.

Nicht nur im Geschichts- oder Sozialkundeunterricht kann das Thema RAF behandelt werden. In Lucies Parallelklasse nehmen die Zehntklässler im Fach Deutsch Heinrich Bölls Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ durch. Das Werk zur Auseinandersetzung mit dem Terrorismus bietet mehr als Textanalyse. Manipulationstechniken der Zeitungen können herausgearbeitet werden. Auch die Frage nach der Gewaltanwendung und wohin sie führen kann, sind zentrale Themen des Unterrichts, erzählt Deutsch- und Geschichtslehrer Rainer Brieske. Am Ende der Unterrichtseinheit wird die Verfilmung gesehen, Fähigkeiten zur Filmanalyse werden geschult. Das Buch wird auch häufig als Grundlage für die sogenannte Fünfte Prüfungskomponente im Abitur gewählt. Allerdings muss es jemanden geben, der die Schüler auf die Idee bringt.

Alexander Schäfer

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