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Berlin: Selbstmord in den Medien: Pro und Contra

Die Psychologie ist keine exakte Wissenschaft. Doch mit Hilfe von statistischen Verfahren ist es möglich, zu relativ "harten" Ergebnissen zu kommen.

Die Psychologie ist keine exakte Wissenschaft. Doch mit Hilfe von statistischen Verfahren ist es möglich, zu relativ "harten" Ergebnissen zu kommen. So hat man bisher angenommen, dass es so etwas wie den "Werther-Effekt" gibt - heute würde man es vielleicht den "Kurt-Cobain-Effekt" nennen -, demzufolge große öffentliche Aufmerksamkeit für Selbstmorde zur Nachahmung auffordert. Eine Langzeitstudie aus Wien bestätigt diesen Effekt für Bahn-Selbstmorde: Wenn die Medien gar nicht mehr oder nur sehr zurückhaltend berichten, gibt es keine Häufung von Selbstmorden in zeitlicher Nähe, die Gesamtzahl geht um die Hälfte zurück.

Deshalb müssen auch in Berlin BVG und Medien einen Pakt schließen. Je weniger Berichte, desto weniger Selbsttötungen. Natürlich können so nicht alle Kandidaten abgehalten werden. Aber vielleicht doch diejenigen, die ihr Ableben nicht minutiös planen, sondern in einer Kurzschlusshandlung den Weg auf die Gleise wählen.

Zu sprechen wäre auch darüber, warum man sich immer nur um die grämt, für die es zu spät ist. Einen Selbstmörder holt niemand zurück ins Leben, ein ohnmächtiger Zugführer kann aber für sein Leben gezeichnet sein durch einen Lebensmüden, der einen Unbeteiligten psychisch verletzt. Doch deren Leiden bleibt meist im Verborgenen. Wenn wir also nicht vom Selbstmörder schreiben können, ohne vom lebenslang Gezeichneten zu schweigen, sollte gelten: Keiner kommt ins Blatt. Publicity für Sebstmörder gibt es nicht mehr. Und das ist auch für alle potenziell Selbstmordgefährdeten das Beste. Clemens Wergin

Wegen eines tödlichen Unglücks im U-Bahnhof X war der Zugverkehr auf der U-Bahnlinie Y am Sonnabend für 30 Minuten unterbrochen. Wie die Verkehrsbetriebe mitteilten, hatte es eine technische Störung gegeben."

So oder so ähnlich könnte eine Meldung über einen Selbstmord in Berlin künftig lauten - wenn überhaupt berichtet wird. In München und Wien haben die Medien ein freiwilliges Schweigegelübde abgelegt. Eine Studie hat belegt, dass die Suizidfälle in Wien zurückgegangen sind, seit die Presse Selbstmörder nicht mehr nennt, um Nachahmungen vorzubeugen. Wo bleibt da eigentlich die Studie, die beweist, dass Journalisten helfen könnten, die Zahl der Fälle von Raub und Mord, von sexuellem Missbrauch oder Brandstiftung zu reduzieren, wenn sie in Zukunft auf Polizei- und Gerichtsnachrichten verzichteten? Nachahmer und Trittbrettfahrer gibt es schließlich überall.

Journalisten haben die Pflicht, ihre Leser nach bestem Wissen und Gewissen umfassend zu informieren. Viele der täglichen Nachrichten, die sie verbreiten, sind nicht dazu geeignet, Lebensoptimismus oder seelische Ausgeglichenheit zu fördern. Die Nachrichtenlage gibt das selten her und macht Zeitungslektüre leider oft zur Nervensache. Aufklärung braucht Tatsachen, aber sie muss nicht schonungslos sein. Journalistisches Ethos verpflichtet zur Verantwortung, nicht zur Verdrängung. Das gesellschaftliche Phänomen, dass Menschen ihrem Leben aus eigenem Antrieb ein Ende setzen, wird nicht aus der Welt geschafft, indem man es totschweigt. Stephan Wiehler

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