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Traumatische Erinnerung. Vor Flüchtlingsheimen soll nicht geböllert werden.

© dpa

Flüchtlinge und Silvester: Vorbereitung auf die Knallerei

Flüchtlinge in Berlin werden darüber informiert, dass es in der Silvesternacht laut werden kann. Aber viele kennen das aus ihrer Heimat.

Der Zettel mit der Warnung hängt ein paar Meter von der Terrine entfernt, aus der gerade eine Helferin Gemüsesuppe in einen Teller schöpft. Er ist im Speisesaal des Flüchtlingsheims in Berlin-Kladow an eine Wand geklebt. Hier warten täglich die 500 Flüchtlinge des Heims, hier lesen sie nun in verschiedenen Sprachen: „Ein Feuerwerk am 31. 12.2015 ab Mitternacht ist normal und ungefährlich, zur Begrüßung des neuen Jahres werden laute Knaller und bunte Feuerwerkskörper am Boden gezündet oder in den Himmel geschossen.“

Die Flüchtlinge sind vor Terror und Bomben geflohen. Aus Syrien, aus Afghanistan oder aus dem Irak. Bei ihnen, vor allem bei den Kindern, könnten Knaller traumatische Erinnerungen wecken. In ganz Deutschland rufen Flüchtlingshelfer daher zu Rücksicht in der Silvesternacht auf. In Nordrhein-Westfalen sind Böller in der Nähe von Flüchtlingsheimen nun generell verboten. Und im unterfränkischen Reichenbach gibt es für die 64 Heimbewohner sogar eine Art Probefeuerwerk. Die Stadt hat eine Sondergenehmigung für die Raketen, die an der Flüchtlingsunterkunft noch vor Silvester in die Luft steigen sollen.

Auch in Berlin ist man vorsichtig. Heimleiter Piotr Skrzedziejewski in Kladow hat allen Bewohnern die Warnung auch noch einmal persönlich aushändigen lassen. Zur Sicherheit. Der Plan: Die Flüchtlinge sollen vorbereitet werden.

Flüchtlinge wie Bismallah Paiwandy zum Beispiel. Afghane, 21 Jahre alt, die Füße stecken zwei Tage vor Silvester in blauen Plastikschlappen, den schmächtigen Oberkörper verhüllt ein Kapuzenpullover. Er studierte in Kabul Informatik, seit einem Monat ist er in Deutschland. Die Taliban haben zwei seiner Onkel ermordet. So jemandem müssten die Knallereien doch Angst machen, oder?

Bismallah Paiwandys Mund verzieht sich zu einem breiten Lächeln. „Wir feiern in Afghanistan auch Silvester, wir haben auch Leuchtraketen, wir haben Knaller, wir feiern sogar drei Tage“, sagt er. Nein, Paiwandy hat keine Angst, er gestikuliert, als er erzählt, dass sie in Afghanistan „große Feuer entfachen, und dann Jungs und Mädchen, nach Geschlechtern getrennt, um diese Feuer tanzen“. So lief das in ganz Afghanistan, damals, als die Taliban noch nicht wüteten. „Aber jetzt geht das nur noch in den Provinzen, in denen es Frieden gibt“, sagt er. In Kabul, der Hauptstadt, feiern sie auch 2015 wie gewohnt.

Auch Ahmed Mahayni benötigt eigentlich keine Warnung. Er kommt aus Syrien und ihm muss niemand erzählen, dass in der Neujahrsnacht geknallt wird. „Auf den Bergen um Damaskus wird ein großes Feuerwerk gezündet, das ist staatlich organisiert“, sagt er. „Und die Leute stehen auf Balkonen oder auf den Straßen und schauen zu.“ Und in den Lärm der explodieren Raketen mischt sich das Getöse von Knallfröschen. „Es gibt auch Privatleute, die Raketen in den Himmel jagen“, sagt Mahayni, „das ist verboten, aber die Polizei schaut weg.“

So lief es zumindest bis zum Beginn des Bürgerkriegs. Jetzt sei das vorbei. Viele Städte sind zerstört. Wenn es dort knallt, geht es um Leben und Tod. Und die jüngsten unter den Flüchtlingen haben mit dem Lärm nie etwas anderes verbunden als Gewalt. Viele Kinder denken beim Knall der Raketen nicht an ein Freudenfest, sondern an Rauchsäulen nach einer Explosion, beim Geruch von Schwefel nicht an Wunderkerzen, sondern an Schmerzensschreie und Zerstörung. Die Warnungen, die vor den Unterkünften an die Erwachsenen verteilt werden, sind eigentlich als Botschaft an die Kinder gedacht. Der entscheidende Satz lautet: „Ab Mitternacht wird es laut. Daher bitte vorab mit den Kindern darüber reden, damit die keine Angst bekommen.“

Anders als in Nordrhein-Westfalen sind in Berlin Böller nahe der Unterkünfte nicht verboten. Dass auch die Flüchtlinge aus dem Balkan so das neue Jahr einleiten, kann sich Skrzedziejewski gut vorstellen. „Die fragen mich ja nicht um Erlaubnis“, sagt er. „Die machen es einfach.“

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