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Helles Hellersdorf. Das Viertel an der Adele-Sandrock-Straße ist absolut durchschnittlich – sagen die Statistiker.

© David Heerde

Zu Besuch im durchschnittlichsten Kiez Berlins: Hellersdorf: Die Mitte ganz am Rand

Ein Kiez in Hellersdorf ist der Nullpunkt Berlins – zumindest statistisch. Die Leute hier sind durchschnittlich gesund, durchschnittlich arm, durchschnittlich schlau. Doch wo sind sie?

Um vom Alexanderplatz in den durchschnittlichsten Kiez der Stadt zu gelangen, braucht die U5 exakt 30 Minuten. Nach einer Viertelstunde schon hat sie allerdings die Gegenden verlassen, die man großzügigerweise als Innenstadt bezeichnen könnte. Und als die U5 über Lichtenberg hinaus fährt, sind die meisten Fahrgäste ausgestiegen. Denn die Reise zum Berliner Durchschnitt führt an den Stadtrand im Osten, bis nach Brandenburg sind es von dort keine fünf Minuten zu Fuß. Als der Zug in den ausgezehrten Bahnhof Louis-Lewin-Straße – kahler Beton, kein Imbiss, kein Blumenladen – rollt, sitzen noch sieben Menschen in den Waggons.

Trotz strahlender Sonne ist es auf den Straßen und Wiesen zwischen den fünfgeschossigen Plattenbauten so leer, so ruhig, dass man die Kraniche hört, die am Himmel über Hellersdorf vorbeiziehen. Dieses Viertel, rund um die Adele-Sandrock-Straße, ist seit vergangenem Freitag wegen seines offiziellen Indexwertes von -0,0069 dem Berliner Nullpunkt am nächsten. Und Nullpunkt bedeutet in der Sozialstatistik des Senats, dass die Kombination aller verfügbaren Daten zu den Bewohnern des Kiezes dem Berliner Durchschnitt entsprechen. Dass sich also Einkommen, Krankheiten und Bildung hier so verteilen, wie sie es insgesamt in der 3,4-Millionen-Stadt auch tun.

Bildung, Durchschnittseinkommen, Gesundheit: Die Mischung macht's

Was ist passiert, dass ausgerechnet die Bewohner des Hellersdorfer Stadtrandes so nahe an den Durchschnitt kommen? Manfred, Anfang 50, Dackel an der Leine, Zigarette in der Hand, weiß es nicht. Auf ihn trifft nichts von dem zu, das es braucht, um einen Durchschnitt zwischen Arm und Reich, Alt und Jung, Gesund und Krank bilden zu können. Denn der Sozialindex des Senats erfasst 36 Einzelfaktoren, die Mischung macht es also: Wenn ein Kiez nahe an den Durchschnitt kommt, obwohl seine Bewohner schlecht bezahlte Jobs haben, dann brauchen sie zum Beispiel eine solidere Bildung oder eine robuste Gesundheit, um statistisch gesehen wieder aufzuholen.

Manfred ist nicht dumm, er hat sich nur lange nicht aufraffen können, zum Lesen oder einem Museumsbesuch. Manfred wohnt in einer Eineinhalb-Zimmer-Wohnung, bezieht Hartz IV und war eine Weile nicht beim Zahnarzt. „Könnse ruhig schreiben, dass ick keen Geld für neue Kronen krieg’!“ Wie sein Viertel es zum Durchschnitt geschafft hat, ist ihm ein Rätsel. Ökonomisch schwach, aber dafür vielleicht hoch gebildet? „Ick sach’ ma’ so: Studiert habe ick nu ma’ nich, na und!?“, blafft Manfred netter gemeint, als es sich im ersten Moment anhört.

Nur 600 Meter weiter ist der Kiez, der auf Platz 418 von 419 liegt

Noch absurder wirkt die amtliche Statistik, wenn man weiß, dass 600 Meter weiter jene Wohnblöcke stehen, die seit Jahren als besonders problematisch eingestuft werden: Die Hellersdorfer Promenade hat es nun auf den vorletzten Platz im Ranking des Senats geschafft – Platz 418 von 419 Kiezen in der Stadt: Hohe Arbeitslosenquote, viele Gesundheitsprobleme, wenig Bildung.

Hinter Manfred steht ein eingeschossiger Flachbau. Einst war die Anlage für Läden aller Art gedacht, inzwischen aber sind viele Räume leer, genauso wie die frühere Kaufhalle, für die sich offenbar kein Discounter gefunden hat. Eine Kneipe ist offen, die Gäste eher verschlossen. Da wäre eine Dame mit auffällig vielfarbig bemalten Fingernägeln, tief gebräunt, blondes Jahr, etwa 45 Jahre alt. Skeptisch schaut sie auf, vielleicht ahnt sie, dass der Herr in Jeansjacke neben ihr – es ist 12 Uhr – bald ein Bier zu viel trinken wird. An der Sauna nebenan steht „Einbruch lohnt sich nicht! Kein Bargeld!“ Im Italiener dahinter kostet die Pizza Funghi 4,50 Euro, nicht unbedingt Preise für die Mittelschicht.

Das Branitzer Karree erklärt das Statistikwunder von Hellersdorf

Das Viertel ist erst Ende der 80er hochgezogen worden. Die DDR ging dann schnell unter, doch es war noch viel Platz auf den Hellersdorfer Wiesen. Und so haben sich die Stadtplaner entschlossen, zehn Jahre später das Branitzer Karree zu bauen. Weil aber das Branitzer Karree mit roten Klinkern, angenehm gerundeten Balkonen und hohen Fenstern auch Mieter anlockte, die ein bisschen mehr Geld haben als Manfred, dürfte damit das Statistikwunder von Hellersdorf erklärt sein. Die Statistiker hatten die Stadt in 419 Gebiete unterteilt, rund 8000 Berliner werden als ein Planungsraum betrachtet. Und zu diesen 8000 gehören hier neben Manfred und der Dame mit den funkelnden Fingernägeln eben auch die Bewohner des Nach-Wende-Karrees.

Zu sprechen war dort am Samstag niemand. Nur eine Frau – Anfang 30, dezent durchsichtiger Nagellack – ist zu sehen. Ihre Eltern wohnten in der Nähe, nach der Ausbildung seien ihr Mann und sie wieder in die Gegend gekommen. Mit ein bisschen mehr Geld. Drei Zimmer, warm, mit allem drum und dran – Kosten? Fast 900 Euro. Wer solche Mieten zahlt, treibt den Schnitt eben ein wenig nach oben.

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