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Brandenburg: Beweise, die nicht zählen

1988 wurde ein Mädchen getötet. Nach DNA-Analyse gab ein Mann die Vergewaltigung zu – sie ist verjährt

Von Sandra Dassler

Frankfurt (Oder) – Der Albtraum geht weiter. Und wie damals, als er begann, scheint die Sommersonne vom Himmel. Der Saal 318 im Landgericht von Frankfurt an der Oder erreicht schon um halb zehn Uhr morgens Sauna-Temperaturen. Schweiß rinnt dem Vorsitzenden Richter übers Gesicht: „Sie wollen sich also einlassen?“, fragt er den Angeklagten Der hat an den ersten zwei Verhandlungstagen geschwiegen. Jetzt nickt er kurz. Brigitte Steiner kämpft gegen die Übelkeit, die in ihr aufsteigt und gegen dieses unkontrollierbare innere Zittern. Die 54-Jährige versucht verzweifelt, Haltung zu wahren. Wird sie jetzt die Wahrheit über die letzten Stunden ihres Kindes erfahren?

Auch der 1. Juli 1988 war ein sonniger Tag. Freudestrahlend kam Brigitte Steiners Tochter Maja aus der Schule. Die Dreizehnjährige brachte ein sehr gutes Zeugnis nach Hause und die Vorfreude auf acht Wochen Sommerferien. „Maja war ein lebenslustiges Kind“, sagt ihre Mutter sechzehn Jahre später dem Gericht: „Für Jungs hat sie sich noch nicht interessiert. Aber sie war kontaktfreudig – mit einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.“ Maja hatte es eilig an diesem Tag. Sie wollte bei ihrem Onkel am Veltener See die ersten Ferientage verbringen. Nach kurzem Abschied zog sie los. Dass ihre Tochter nie angekommen ist, erfuhr die Mutter erst drei Tage später. Die Verwandten hatten geglaubt, Maja sei gar nicht losgefahren. Ein Telefon besaßen die Steiners nicht.

Die Polizisten sagen vor Gericht aus, dass sie den Anblick bis heute nicht vergessen können: Slip und Rock lagen ein paar hundert Meter entfernt, als die Leiche des Mädchens in einem Wald gefunden wurde – mit Fesseln um die Handgelenke und einem Strick um den Hals.

Majas Vater zerbrach an dem Verbrechen. Erst ging er psychisch zugrunde, dann körperlich. Fünf Jahre später starb er an Krebs; die Ärzte hatten keine Zweifel, was die Krankheit ausgelöst hat.

Dass Brigitte Steiner weiter lebte, hatte mit dem Sohn zu tun, der ihr blieb. Und mit der Hoffnung, dass der Mörder gefunden werden würde. Der Anruf kam 15 Jahre später, um die Weihnachtszeit 2003. „Frau Steiner, wir haben möglicherweise den Mörder ihrer Tochter.“ Sie hat viel geweint seither.

Sie weint auch jetzt im Gerichtsaal. Lautlos meist – damit es die Menschen um sie herum nicht stört. Nur während ihrer Befragung am ersten Prozesstag konnte sie das Schluchzen nicht unterdrücken. Als der Richter fragte, ob sie eine Pause braucht, hat sie den Kopf geschüttelt, den Rücken gestrafft und ihre Aussage zu Ende gebracht.

Der kleine vollbärtige Mann auf der Anklagebank war 1988 32 Jahre alt, muskulös, durchtrainiert, ohne sexuelle Probleme mit Frauen. Was hat ihn veranlasst, jenes fremde Mädchen, das vom S-Bahnhof Borgsdorf zu Fuß zum Veltener See aufbrach, zu vergewaltigen?

Rolf S. weiß es angeblich nicht. Er schildert den Vorgang, aber er gibt keine Antworten auf das Warum: Er hat das arglose Mädchen in seinem Kleintransporter mitgenommen, ist mit ihm in den Wald gefahren, hat es gefesselt und auf der Ladefläche vergewaltigt. Irgendwann, sagt er, fühlte er sich durch einen Radfahrer gestört und sei in Panik davongefahren, das gefesselte Mädchen auf dem Auto. Später habe er das seiner Ansicht nach ohnmächtige Kind irgendwo „abgelegt“.

Rolf S. kann sich an Details der Vergewaltigung erinnern – zum Beispiel, dass das Kind „viel Angst in den Augen hatte“. Auch dass er es mit den Worten tröstete: „Es wird schon nicht so schlimm.“ Das Einzige, was Rolf S. angeblich nicht mehr weiß, ist, wie Maja zu Tode kam.

„Das ist Taktik“, sagt Brigitte Steiners Anwalt, Waldemar Kupke. Die Vergewaltigung ist verjährt, dafür kann Rolf S. nicht mehr verurteilt werden. Den Polizeibeamten, der ihn nach seiner Festnahme im Dezember 2003 als erstes vernahm, fragte S., wie der Strick um Majas Hals verknotet war. „Mit einem so genannten Zimmermannsschlag“ antwortete der Beamte. „Dann muss ich es ja gewesen sein“, soll Rolf S. gesagt haben. Den Zimmermannsschlag hat er seit seiner Lehrzeit als Bauarbeiter benutzt. Sein Verteidiger beantragte, den Prozess auszusetzen, weil sich sein Mandant einer tiefenpsychologischen Therapie unterziehen sollte. Unter Hypnose wolle er versuchen, sich an den Mord zu erinnern. „Ich denke, dass die Mutter das Recht hat zu erfahren, was genau passiert ist“, erklärt S. dem Gericht.

Kann man ihm glauben? 2001 war Rolf S. wegen zweier Vergewaltigungen zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Sein genetischer Fingerabdruck kam in die bundesweite Gendatei. Dass er mit dem Mord an Maja Steiner in Verbindung gebracht wurde, ist einem Beamten des Brandenburger Landeskriminalamts zu verdanken. Der hatte im Herbst vergangenen Jahres aus den seinerzeit aufbewahrten Spermaspuren an Majas Kleidung eine DNA-Probe rekonstruiert. Rolf S. hatte das Gefängnis gerade verlassen, als er erneut verhaftet wurde. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Sperma nicht von ihm stammt, liegt bei 1 zu 3,5 Billionen.

Brigitte Steiner war nach dem ersten Schock irgendwie erleichtert, dass der Täter nun vielleicht doch gefunden war. Den Prozess durchzustehen, glaubte sie Tochter und Ehemann schuldig zu sein. Aber wie soll sie es ertragen, wenn dieser Mann freigesprochen wird, weil man ihm den Mord nicht nachweisen kann? „Da würde die späte Aufklärung zum Fluch für die Angehörigen des Opfers“, sagt ihr Anwalt Waldemar Kupke: „Gibt es Schlimmeres, als den geständigen Vergewaltiger und möglichen Mörder zu kennen und ihm nichts anhaben zu können?“

Das Landgericht Frankfurt (Oder) will das Urteil im Fall Maja Steiner noch im September fällen.

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