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Brandenburg: Der Puls des Flamencos

Körpereinsatz bis in die Gesichtsmuskulatur: Auch Berliner lieben den spanischen Tanz voller Emotionen

Kerstin kommt nicht mehr mit. Sie hört auf zu tanzen – und starrt konzentriert auf die Füße von Flamencolehrerin Nicole Georgi. Die bewegen sich rasend schnell unter den wogenden Volants ihres langen lila Kleides. Die Nägel unter ihren Schuhspitzen und die stabilen Absätze treffen hart aufs Parkett. Es klingt beinahe, als stände das kleine Flamencostudio an der Boxhagener Straße in Friedrichshain unter Maschinengewehrbeschuss. Besonders wenn Flamencolehrerin Georgi, Kerstin und die anderen fünf Tanzschülerinnen zwischen 24 und 46 gleichzeitig zur Gitarrenmusik aufs Parkett stampfen. Dazu heben sie die Arme mit anmutigen Bewegungen über den Kopf: Mal, als wollten sie einen Liebhaber umarmen, dann wieder, als scheuchten sie ihn davon.

„Flamenco lebt von Emotionen“, sagt Nicole Georgi nach der Unterrichtsstunde. Man könne Wut und Schmeichelei gleichermaßen ausdrücken mit den Bewegungen. „Es wird eine Intimität mit dem Zuschauer geschaffen.“ Der ganze Körper ist dabei im Einsatz, selbst die Gesichtsmuskeln: Manchmal schauen Kerstin und ihre Mittänzerinnen Birgit und Marie beim Tanzen ganz streng in den Raum, dann scheinen sie jemanden zu umschmeicheln. „Das Wunderbare am Flamenco ist, dass man den Rhythmus selbst erzeugt“, sagt Birgit. „Das macht den Tanz aber auch sehr schwer “, erklärt Lehrerin Nicole Georgi.

Doch der Herausforderung stellen sich viele Berlinerinnen. Es gibt eine Reihe von Schulen, an denen der Tanz unterrichtet wird. 40 Schüler in vier Kursen unterrichtet Nicole Georgi an der Boxhagener Straße: „Am Anfang muss man das Alphabet des Flamencos lernen“, sagt sie. Und zählt die vier Formen auf, mit denen man den Fuß beim Flamenco aufschlagen kann: Planta ist der Ballen, Tacon der Absatz, Punta die Spitze und Golpe der ganze Fuß. Jeder Fußteil erzeugt einen anderen Klang. Nach etwa einem Jahr haben Schüler das drauf.

Vielleicht liegt die Beliebtheit des Flamencos aber auch daran, dass man keinen Tanzpartner braucht. Das empfindet nämlich Marie als besonderen Vorteil. Ihr Mann tanzt nicht gern. Anders geht es dem einzigen Mann, der bei der Tanzstunde mit dabei ist: Der Gitarrist steht plötzlich von seinem Stuhl am Rand der Tanzfläche auf. Und fällt in die Schrittkombination der Frauen mit ein. Dabei spielt er die ganze Zeit weiter. Dann setzt er sich wieder und beginnt mit klagender Stimme zu singen: „Se que ya no soy como era – ich weiß, dass ich nicht mehr so bin, wie ich war.“ Gitarrist Claudio el Compadre heißt eigentlich ganz bürgerlich Klaus Neumann, doch der Name ist ihm zu gewöhnlich.

Wenn er nicht gerade für Nicole Georgi und ihre Schülerinnen spielt, unterrichtet er Flamencogitarre an der Musikschule Kreuzberg. Was die Tänzerinnen mit den Füßen machen, produziert er mit den Händen auf den Gitarrensaiten: Viele schnelle Schläge. Gitarrist und Tänzerinnen kommunizieren beim Flamenco miteinander. „Sie dirigieren und bestimmen den Rhythmus, und ich folge ihnen dabei mit meinem Spiel“, sagt Neumann. Manchmal ist das Knallen der Absätze und Nägel lauter als die Gitarre.

„Solea por Bulleria“ heißt der Tanz, den er gerade gespielt hat, eine Mischung aus schnellem und getragenem Flamenco. „Es gibt nicht den Flamenco als einen Tanz“, sagt Nicole Georgi. „Flamenco ist eine Art Rhythmusstammbaum.“ Etwa 50 Stile und Rhythmen unterscheide man dabei. „Jeder Lehrer bringt seinen Schülern etwas anderes bei. Beim Flamenco lernt man nie aus“.

Birgit lernt den Tanz seit drei Jahren, Kerstin seit einem Jahr. Jetzt sollen sie einzeln die neue Kombination vortanzen. Etwas heiser und lange nicht so durchdringend wie die der Lehrerin klingen ihre stampfenden Schritte. „Es muss richtig rollen“, sagt Nicole Georgi. „Und außerdem sieht das bei euch noch zu entspannt aus. Die Spannung muss durch den ganzen Körper gehen.“ Mit einem letzten, abrupten Stampfer geht der Tanz zu Ende. Einen Arm heben die Tänzerinnen dabei wie zu einem schwungvollen Gruß in die Höhe: „Olé“, ruft Nicole Georgi dazu laut.

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