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Brandenburg: Die Mumien von Berge: Verborgene Schätze in der Kirchengruft

Er ließ zuerst eine Kerze an einem Bindfaden hinunter in die dunkle Tiefe. Und wartete ab.

Er ließ zuerst eine Kerze an einem Bindfaden hinunter in die dunkle Tiefe. Und wartete ab. Als die Kerze auch nach Stunden nicht erlosch, wagte er den Einstieg in die unterirdische Grabkammer: Pfarrer Walter Schmidt zählte unter dem Altar der Dorfkirche zu Berge zwölf Kindersärge. Den Besterhaltenen wählte er aus und öffnete den doppelten Sargdeckel. Darunter lag eine Kindermumie in dunkler Kleidung mit Filigranschmuck und einem Blumenkranz um den Hals. Die Blumen galten einst als Zeichen der Hoffnung auf ein ewiges Leben.

Die Kinder waren möglicherweise Opfer einer Epidemie. Im Kirchenbuch fand Schmidt den Vermerk, dass um 1700 allein in einer Woche sieben Kinder an Pocken starben. Vielen im Dorf ist der ehemalige Pfarrer noch immer gut in Erinnerung, obwohl er bereits 1975 aus der DDR ausgebürgert wurde. Schmidt unterscheidet sich in einem Wesenszug von seinen beiden kirchlichen Nachfolgern. Für Schmidt sind die Berger Mumienfunde etwas Außergewöhnliches. "Ich hänge noch heute mit meinem Herz an den Mumien und finde es jammerschade, dass man diesen Zeugnissen der Zeitgeschichte nicht mehr Beachtung schenkt", sagt der heute 69-Jährige. Stunden, Abende, halbe Nächte verschwand der geschichts- und archäologisch interessierte Pastor unter der alten Dorfkirche, wühlte sich wie ein Maulwurf voran. Und wurde fündig. Zwei Mumien - einen Mann und eine Frau fand er in der Turmgruft. Die Kinder liegen in einem von zwei Gewölben unter dem Altar. Sie waren einmal durch einen Gang mit der Turmgruft verbunden. Zugänglich ist heute nur noch letztere. An der Rückseite des Glockenturmes liegt der enge Einstieg. Ein schmiedeeisernes Gitter versperrt die zirka einen Meter breite Öffnung in der Mauer und somit den Weg, der auf einem steilen Treppchen in die Tiefe führt.

Abstieg auf eigene Verantwortung

Den Eingangsschlüssel für das Gitter verwahrt heute Harald Grasow vom Gemeindekirchenrat. Auf dem Anschlagbrett vor der Kirche ist sein Name für Besichtigungen von Kirche und Gruft vermerkt. Doch den Abstieg in die Grabstätte müssen Neugierige auf eigene Verantwortung übernehmen. Die Vermarktung der beiden Mumien in der Turmgruft - sie gehören zu den besterhaltenen in Deutschland - lässt zu wünschen übrig. Die Überreste von den Kindern etwa bekommt heute niemand mehr zu sehen. Pfarrer Walter Schmidt entdeckte 1969 die unscheinbare Öffnung als Zugang zum Grabgewölbe. Darin liegen die beiden Erwachsenen - ein großgewachsener, kräftig gebauter, kahlköpfiger Mann und eine Frau mit Resten von dunklem Haar auf dem Kopf. Sie liegen in Leinentüchern gewickelt und auf Hopfenstreu gebettet. Körperteile, die sonst schnell verwesen - wie beispielsweise Augen, Lippen, Wangen - sind bei den Berger Mumien gut erhalten geblieben. Bis heute weiß man nicht genau, wer die Toten sind und warum die Leichen nicht natürlich verwesten. Anzunehmen ist, dass es sich um Mitglieder des Rittergeschlechts von Hake handelt.

Die Ritterfamilie von Hake herrschte seit 1440 auf dem Gut Berge mehrere Jahrhunderte. An den Außenseiten der Kirche sind noch heute ihre steinernen Bildnisse zu bewundern. Bei der weiblichen Mumie könnte es sich um die 1621 im Kindbett verstorbene 28-jährige Agnes Sophie von Brose, die erste Frau Wichmanns II handeln. Denn auch ihr Bildnis ist an der Kirchenwand in Stein geschlagen. Dort blickt sie mit starrem Blick und ihrem Säugling im Arm über den Friedhof von Berge. Die Frauenleiche in der kleinen, engen Gruft hält die Arme über der Brust gekreuzt, als ob sie ein Kind festhalten wolle. Doch es wurden keine Reste eines kindlichen Leichnams gefunden. Ob der Mann daneben ihr Gatte war, ist ebenso ungeklärt. Walter Schmidt hat eine Grabplatte entziffert: "In Gott selich entschlafen beneben ihrem Söhnlein. Ihres Alters im 28 Jahr sehlen Got ... G ... AO 1621 Marty abens vumb 8 Uhr ist ... Edle vielehr vund tugendsame Frav Agnes Sohia V Bosen des EG: ... Vnde ... Weichmann ... V ..."

Särge mit Glasdeckeln gesichert

Erklärungen, warum die Leichen so gut erhalten sind, gleichen einem Puzzlespiel: In den Gewölben herrschte ein stetiger trockener Luftzug. Man nimmt an, dass durch die geringe Luftfeuchtigkeit, das kühle Raumklima und Salpeterausblähungen in den Wänden relative Keimfreiheit entsteht. Die Mumien liegen in Doppelsärgen. Walter Schmidt glaubt, dass die inneren Tannenholzsärge im Laufe der Jahre Fäulnisschäden aufwiesen, die noch heute zu erkennen sind. Um weiteren Verfall zu verhindern, wurden die Toten in größere Eichensärge gelegt, deren Holz um 1683 datiert ist. Walter Schmidt hatte die Särge mit Glasdeckeln abgesichert, um weiteren Verfall aufzuhalten. Neu entdeckt wurden die Toten erstmals 1744, als das jetzige Gotteshaus auf den Grundmauern der alten Wehrkirche neu errichtet wurde. Wissenschaftliche Untersuchungen von Anthropologen aus Prag, Warschau und der Humboldt Universität Berlin begannen 1970 - und aus finanziellen Gründen nach sechs Jahren abgebrochen. Zu DDR-Zeiten wurden die Mumien als "sozialistisches Staatsgeheimnis" aus Angst vor Ansprüchen westdeutscher Nachfahren verschwiegen.

Harald Grasow, ehemaliger Konfirmandenschüler von Schmidt, hat seit der Wende Führungen ehrenamtlich übernommen. Vor acht Jahren startete ein geschäftstüchtiger Gastwirt im 570-Seelen-Dorf Bestrebungen, mit den Mumien Touristen nach Berge an der B 5, sechs Kilometer hinter Nauen, zu locken. Doch es gab damals wie heute zwiespältige Meinungen. Dagegen spricht, dass die Berger Kirche direkt auf dem Friedhof liegt und Besucherströme die Totenruhe stören können. Gegen eine breite Vermarktung der Mumien spricht sich vor allem der evangelische Pfarrer Thomas Tutzschke aus: "Die Mumien sind bestimmt eine interessante Sache, aber man sollte ihre letzte Ruhestätte würdigen." Alt-Pfarrer Schmidt widerspricht: "Obwohl die Mumien der Kirche gehören, sind sie weiterer wissenschaftlicher Untersuchung wert. Ich denke, auch Mumien können mir wie Kunstwerke oder die Theologie Antworten auf meine Fragen geben." Während in Kampehl (Ostprignitz/Ruppin) die Gruft der Feldsteinkirche zur Besichtigung mit der Mumie des Ritters Kahlbutz jährlich bis zu 60 000 Besucher anlockt und von den Eintrittsgeldern die Renovierung der Kirche finanziert werden konnte, vergrößern sich die Löcher in der Decke der Kirche zu Berge und im Kirchensäckel. Tutzschke findet es traurig, wenn über die Vermarktung von Toten eine Kirchensanierung sicher gestellt werden muss. So bleiben die Mumien in Berge weiterhin ein Geheimtipp. Und es bleibt eine Frage des Glücks, ob Harald Grasow zu Hause mit dem Schlüssel in der Hosentasche anzutreffen ist.

Dorothea Flechsig

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