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Fall Ermyas M.: Vergessene Nacht

Ermyas M. erinnert sich nicht, was ihm geschehen ist. Wurde er Opfer eines rassistischen Angriffs? Der Staatsanwalt glaubt dies nicht. Von Sandra Dassler

Potsdam - Die Haare sind wieder da, freilich noch weit von der einstigen Pracht entfernt. Bis zum Ostersonntag 2006 trug er seine Dreadlocks meist zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er sagt: "Es hat 14 Jahre gedauert, sie so lang wachsen zu lassen."

Die Ärzte konnten darauf keine Rücksicht nehmen: Um sein Leben nach jenem Ostersonntag zu retten, mussten die Haare ab. Nach einem überaus wuchtigen Faustschlag unter das linke Auge und dem anschließenden Sturz auf das Pflaster war sein Gehirn stark angeschwollen. Um den Druck wegzunehmen, entfernten die Chirurgen zeitweilig ein handtellergroßes Stück aus seiner Schädeldecke.

Am Mittwoch sitzt Ermyas M. im Saal 009 des Potsdamer Landgerichts erstmals jenen Männern gegenüber, die dafür verantwortlich sein sollen, dass er wochenlang zwischen Leben und Tod war. Zuvor musste er die Blitzlichter der Fotografen und die Fragen der Journalisten überstehen. Die standen schon Stunden vor Prozessbeginn Schlange vor dem Gerichtsgebäude am Nauener Tor. Dutzende waren gekommen, um ihn zu sehen: Ermyas M., um den im vergangenen Frühjahr viele gebangt hatten. Für den demonstriert, gebetet und gespendet worden war. Ermyas M., geboren in Äthiopien, seit 1988 in Deutschland, deutscher Staatsbürger, Wasserbau-Ingenieur, verheiratet mit einer Potsdamerin, Vater von drei Kindern.

Es ist der zweite Auftritt von Ermyas M. in der Öffentlichkeit seitdem, im Dezember war er zu Gast im Fernsehen, bei "Stern TV". Man merkt dem schlanken und groß gewachsenen Mann an, dass er lieber weit weg von den Kameras und all den Fragen wäre, die er jetzt mit leiser Stimme beantwortet: Ja, es gehe ihm verhältnismäßig gut. Nein, er könne sich noch immer nicht an die Tat erinnern. Ja, er werde die ganze Zeit am Prozess teilnehmen.

Ermyas M., 38 Jahre alt, trägt helle bequeme Schuhe, eine schwarze Hose und einen hellbraunen Mantel. Über dem Hemd baumelt ein Brustbeutel mit einem Maskenmotiv. Ermyas M. ist in physio- und psychotherapeutischer Behandlung. Und er habe einen Weg gefunden, wie er das alles verarbeiten könne, sagt er. Und als die Kameras abgeschaltet sind: "Ich wollte nicht bekannt werden. Ich wollte das alles nicht. Aber ich muss jetzt damit leben."

Vom normalen Bürger zum Politikum

Als Ermyas M. in der Nacht zum 18. April 2006 nach einem Abend mit seiner Frau am Osterfeuer noch weiterfeiern wollte, war er ein normaler Bürger. Als er Wochen später aus dem künstlichen Koma erwachte, war er ein Politikum: Das lag möglicherweise daran, dass Politiker, Justiz und Medien schnell und reflexhaft reagierten. Aber wenn ein Schwarzer hierzulande fast zu Tode geschlagen wird - wer würde nach all den ausländerfeindlichen Gewalttaten der letzten Jahre nicht an ein rassistisches Tatmotiv glauben?

Hinzu kam, dass das Ermyas M. kurz vor der Tat seine Ehefrau angerufen hatte und deren Mobilbox das Telefonat - plötzlich waren Beschimpfungen wie "oller Nigger" und "Scheißnigger" zu hören - aufgenommen hatte. Zwei Tage danach zog der damalige Generalbundesanwalt Kay Nehm die Ermittlungen an sich, weil er einen rechtsextremistischen Tathintergrund vermutete, der die öffentliche Ordnung gefährden könne. Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) kritisierte diese "Voreiligkeit" ebenso wie Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU). Ein internationaler Ärztekongress fand nicht statt, und wenig später warnte der ehemalige Sprecher der Bundesregierung, Uwe-Karsten Heye, ausländische Besucher der Fußball-Weltmeisterschaft vor den "No-Go-Areas" in Ostdeutschland.

Staatsanwalt geht nicht von rassistischem Hintergrund aus

Die beiden angeblichen Täter wurden am 20. April festgenommen. Von einer "beispiellosen Vorverurteilung" spricht Matthias Schöneburg, einer der beiden Anwälte von Björn L., der am Mittwoch gemeinsam mit Thomas M. auf der Anklagebank sitzt. Tatsächlich geht die Staatsanwaltschaft inzwischen keineswegs mehr von einem rassistischen Hintergrund, sondern von einem anders motivierten Streit aus, der später eskalierte. So habe sich Ermyas M. offenbar von den beiden bedrängt gefühlt und sie gebeten, "woanders herum zu gehen".

Dann sollen die Beschimpfungen gekommen sein. Die Angeklagten seien dann weitergegangen, Ermyas M. sei ihnen gefolgt, es kam zu erneutem Streit. Als die Angeklagten wiederum gehen wollten, soll Ermyas M. versucht haben, Björn L. von hinten zu treten. Der drehte sich um und versetzte ihm jenen Faustschlag ins Gesicht.

Das hält die Staatsanwaltschaft für "unverhältnismäßig", wertet es als gefährliche Körperverletzung "mittels einer das Leben gefährdenden Handlung". Thomas M. wird unterlassene Hilfeleistung zur Last gelegt, beiden außerdem noch Beleidigung.

Björn L. und Thomas M. bestreiten auch an diesem ersten Verhandlungstag, überhaupt etwas mit der Tat zu tun zu haben. Das heißt, eigentlich lassen sie ihre Anwälte vorbereitete Erklärungen verlesen. Sie selbst seien zu mitgenommen, um sich vor Gericht äußern zu können.

Angebliche Aussage: "Hätte ich nur richtig reingetreten."

Björn L., der in wenigen Tagen 30 wird, hat keinen Job, arbeitet aber oft als Türsteher in der Diskothek "Clärchens Ballhaus" in Potsdam. Er trägt Brille, Ohrringe und ein gestreiftes Hemd. Darunter sind die muskulösen Oberarme zu erkennen. Verdächtigt wird er wegen seiner Stimme. "Ein Skandal", findet sein Anwalt Matthias Schöneburg: "Nur weil er eine piepsige Stimme hat und auf der Mailbox eine piepsige Stimme zu hören ist, wurde er verhaftet. Dabei hat er immer gesagt, dass er zum Tatzeitpunkt zu Hause war und schlief." In der Untersuchungshaft hat Björn L. aber angeblich zu einem Mitgefangenen gesagt: "Hätte ich nur richtig reingetreten."

In der Erklärung steht: "Mein Spitzname Pieps, den ich schon von Kindheit an trage, ist zum Symbol für Fremdenfeindlichkeit geworden. Aber ich war und bin nie rechtsradikal oder ausländerfeindlich gewesen." Ähnlich lautet auch die Erklärung des 31-jährigen Thomas M., der ebenfalls darauf hinweist, dass sich sein Leben seit seiner Festnahme radikal geändert habe. So habe er seine Anstellung als Kinder- und Krankenfahrer verloren. Und das Arbeitsamt zahle ihm keine Unterstützung, weil er wegen des Prozesses dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stünde.

Thomas M. blickt die meiste Zeit nach unten. Björn L. verfolgt die Vorgänge im Gerichtssaal aufmerksam und meldet sich sofort zu Wort, als der Richter von zweimaliger Inhaftierung spricht: "Dreimal war ick drin", sagt er. Seine Stimme klingt empört und gar nicht so piepsig. Seine Anwälte sagen, er sei zum Tatzeitpunkt ohnehin heiser gewesen. Zwar habe man bei ihm CDs mit Nazi-Musik gefunden, aber auch welche von Bob Marley. Und das sei nun nicht gerade die Lieblingsmusik von Neonazis. Björn L. ist wegen Betrügereien vorbestraft, so hatte beispielsweise an einer Tankstelle nicht bezahlt.

Indizienprozess ohne Tatzeugen

Die 4. Große Strafkammer um den Vorsitzenden Richter Michael Thies hat 17 Verhandlungstage mit neun Sachverständigen und rund 50 Zeugen angesetzt, um die Wahrheit herauszufinden. Oder wenigstens ein Urteil zu sprechen. Es wird ein Indizienprozess, Tatzeugen gibt es nicht. Nur einen Taxifahrer, der die Täter wegrennen sah.

An der Straßenbahnhaltestelle Charlottenhof in der Zeppelinstraße, wo ErmyasM. in jener Osternacht saß, fuhren in den vergangenen Tagen immer wieder Autos vor, denen Kamerateams entstiegen. Sie filmten den Tatort, befragten Passanten: "Es ist schlimm, was passiert ist, aber nach dem, was alles in den Zeitungen stand, wissen wir gar nicht mehr, was wir glauben sollen." An der Haltestelle lagen nach der Tat wochenlang Blumen. Plakate mahnten zur Wachsamkeit und Toleranz. Heute verkündet noch ein kleiner Aufkleber:"Keine Döner für Nazis".

Gerald Leschik steht mit seinem Taxi in einer Nebenstraße. Sein Kollege hat Ermyas M. gefunden und die Polizei gerufen, die Tat selbst aber nicht gesehen, sagt Leschik, leider. Es wäre besser, die Wahrheit zu kennen, das Motiv. Auch wenn es kein rassistisches sei, das, was geschehen ist, sei schlimm genug. Daran ändere auch nichts, dass Kollegen erzählen, M. sei ihnen schon manchmal aufgefallen, habe nach Zigaretten gefragt und so. Ein Mauerblümchen sei er jedenfalls nicht gewesen, würden die Kollegen behaupten.

Ermyas' Stimme war voller Angst

Aussagen wie diese sind es, die Steffi M., die Ehefrau von Ermyas M., in den vergangenen Monaten so betroffen machten: "Es standen nach der Tat schon zu viele Details in der Zeitung, die so nicht stimmten und sogar den Eindruck erweckten, Ermyas hätte irgendeine Mitschuld", sagte sie dem "Stern": "Dass er stockbetrunken war oder dass wir Streit hatten. Ich wusste, das stimmt so alles nicht, aber es wurde unrecherchiert in den Zeitungen gedruckt - nur, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen".

Für Steffi M. stand damals fest, dass die Täter Rassisten waren. Ermyas' Stimme sei voller Angst gewesen, sagte sie. Und sie habe schon an der "gehässigen Lache" eines der Angreifer gemerkt, dass die ihm "einfach aufs Maul hauen wollten".

Auch Thomas Zippel, der Anwalt von Ermyas M., geht von einer rassistisch motivierten Tat aus. Und M. selbst kann nur davon berichten, dass er oft Fremdenfeindlichkeit erlebt habe: "Es ist doch schon oft vorgekommen, dass Menschen wie ich einfach nur aus Hass attackiert wurden", sagt er. Seine Hoffnung, dass die Begegnung mit den Angeklagten seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen könnte, hat sich nicht erfüllt. Auch er kann nicht ausschließen, dass sie unschuldig sind.

Seine Haare will Ermyas M. nicht wieder lang wachsen lassen, sagt er und lächelt: Dreadlocks kosten zu viel Zeit. Und die braucht er, um die Tat und den Prozess zu verkraften. Und um seine Promotion am Potsdamer Institut für Agrartechnik abzuschließen. Thema: Effektive Reinigungsmethoden von Gemüse in Dürreregionen Afrikas. ()

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