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Familiendrama: Eine kurze Ablenkung brachte unendliches Leid

Ein Vater schloss sein Gewehr nicht weg – seine 6-jährige Tochter starb. Der Richter sprach ihn schuldig, bestrafte ihn aber nicht. Jetzt prüft das Gericht, ob die ältere Schwester des kleinen Mädchens möglicherweise den Abzug betätigte.

Von Sandra Dassler

Neuruppin – „Ist das Mädchen in Ihren Armen gestorben?“, fragt der Richter leise. Der alte Mann auf dem Zeugenstuhl kann zunächst nicht antworten. Dann schluckt er und sagt: „Wenn Sie nicht schon vorher tot war, dann ja.“

Der 70-jährige Dietrich R. aus Linow bei Rheinsberg würde das Geschehen, das gestern vor dem Amtsgericht in Neuruppin verhandelt wurde, wie er sagt, am liebsten aus seinem Gedächtnis streichen: Am 10. Januar 2006 hat er seine geliebte Enkeltochter Nancy im Wohnzimmer ihrer Eltern in einer großen Blutlache gefunden. Der Schuss, der das sechsjährige Mädchen tötete, kam aus einem Jagdgewehr, das ihr eigener Vater, der Schwiegersohn von Dietrich R., nicht weggeschlossen und gesichert hatte.

Nancys Vater Dirk S. saß gestern auf der Anklagebank. Er musste sich wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen verantworten. Der kräftige, aber nicht allzu große Mann mit kurzem Haarschnitt und Schnauzbärtchen weinte oft und sank während der Verhandlung immer weiter in sich zusammen. Stockend und schuldbewusst erzählte er, dass er am Nachmittag des 10. Januar 2006 eigentlich auf Jagd gehen wollte. Der als Wachschützer arbeitende 36-Jährige besaß die Berechtigung für fünf Waffen – darunter das Jagdgewehr. „Normalerweise habe ich die Gewehre immer im Schrank verschlossen und die Schlüssel gut versteckt“, sagte er.

An diesem Tag aber habe er das Gewehr aus dem Schrank geholt, um zur Jagd zu gehen. Da sei seiner Frau plötzlich eingefallen, dass sie noch einen Termin bei der Physiotherapie in Rheinsberg hatte. „Ich hatte das Gewehr an den Schrank im Wohnzimmer gelehnt und das Magazin schon reingesteckt, ich wollte es ja gleich wieder wegtun, habe es aber dann völlig vergessen“, gab Dirk S. vor Gericht zu. Auf dem Rückweg aus Rheinsberg erreicht ihn der Anruf aus Linow. Zu Hause findet er seine sechsjährige Tochter blutüberströmt im Wohnzimmer vor, leblos, das Gewehr liegt auf dem Boden.

Sein Schwiegervater Dietrich R., der im gleichen Haus wohnt, war zuerst bei Nancy. Vor Gericht sagte der 70-Jährige gestern, er habe einen Knall gehört, der sich später als Schuss herausstellte.

Danach sei seine ältere Enkeltocher, Nancys Schwester, die damals 14 Jahre alt war, die Treppe zum Wohnzimmer, das sich im Obergeschoss befand, hochgerannt und kurz darauf schreiend wieder heruntergekommen. „Nancy hat sich angeschossen“, habe sie gerufen. Doch schon die herbeigeeilten Polizisten und die Notärztin zweifelten daran, dass die nur 124 Zentimeter große Nancy mit ihren 55 Zentimeter langen Armen sich die Schussverletzung mit der über einen Meter langen Waffe selbst zugefügt hat. Die Gutachter vom Landeskriminalamt haben bald Gewissheit: „Es gibt keine andere Erklärung, als dass das Kind durch fremde Hand erschossen wurde“, sagte der Rechtsmediziner Jörg Semmler gestern vor Gericht. Er schloss auch aus, dass das Gewehr umgefallen sei und sich der tödliche Schuss von selbst gelöst habe.

Dass Nancy möglicherweise versehentlich von ihrer eigenen Schwester erschossen wurde, will die leidgeprüfte Familie bis heute nicht wahrhaben. „Die Schwestern hatten sich sehr lieb, waren unzertrennlich“, sagten Vater und Großvater gestern vor Gericht. Die Mutter Claudia S. konnte nicht aussagen. Sie erlitt gleich zu Beginn der Verhandlung einen Kollaps und musste ärztlich versorgt werden.

Alle Familienangehörigen versuchten, das Unglück zu verdrängen, sagte Dirk S., obwohl sie seither in Therapie sind – auch die heute 16-jährige Schwester. Sie ist wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. Der Prozess gegen sie soll nächste Woche unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Das Mädchen hat sich bisher nicht zum Tathergang geäußert.

„Ich würde alles dafür geben, das wieder rückgängig machen zu können“, waren gestern die letzten Worte ihres Vaters vor der Urteilsverkündung. Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft auf eine Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung plädiert. Die Verteidigung verlangte Freispruch. Der Richter sprach Dirk S. schuldig, sah jedoch von der Verhängung einer Strafe ab. Seine Begründung konnte jeder im Gerichtssaal nachvollziehen: „Sie sind gestraft genug.“ Sandra Dassler

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