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Feuerwehrmänner decken am Donnerstag mit Sandsäcken an der Promenade in Frankfurt an der Oder Kanaldeckel ab, aus denen Grundwasser hoch drückt.

© dpa

Hochwasser: Jetzt wird’s eng für Brandenburg

Innerhalb einer Minute steigt das Wasser um mehrere Zentimeter. Die Oderflut ist da – fast wie 1997. Und wieder hoffen alle, dass die Deiche halten. Einige werden noch immer saniert und jetzt schnell mit Sandsäcken befestigt. Denn der Fluss findet jede Schwachstelle.

Er ist ein Mann, dem man starke Nerven nachsagt, der nicht leicht aus der Ruhe zu bringen ist. Aber kurz hinter Eisenhüttenstadt, wo unten am Ufer schon die ersten Keller unter Wasser stehen, bei einer seiner täglichen Kontrollfahrten über den Deich, wird selbst Rainer Speer nachdenklich. Zur Linken sieht er aus dem Autofenster diese urgewaltige Oder, Wasser, so weit das Auge reicht, Baumkronen, die herausragen. Zur Rechten die Wiesen hinter dem Deich, sie sind schon überschwemmt. „Es drückt ganz schön durch“, sagt Speer.

Es, das Wasser der Oder, das sich gurgelnd und gluckernd wehrt, sich in kein Flussbett mehr zwängen lassen will und in den vergangenen Tagen kontinuierlich anschwoll, bis die Behörden in Teilabschnitten die höchste Hochwasseralarmstufe ausriefen. Dann ging es schnell. Innerhalb einer Minute stieg das Wasser nun um mehrere Zentimeter. Die Flutwelle, die nach starken Regenfällen schon Tschechien, Ungarn und Polen unter Wasser setzte, ist in Brandenburg angekommen.

Doch vor Speers Autofenster herrscht keine Gefahr, zwei Meter sind es bis zur Deichkante. Weiter flussaufwärts aber steht auf sechs Kilometern noch der alte Deich, einen Meter niedriger. Ein Meter. Der könnte alles bedeuten.

Speer ist als Innenminister von Brandenburg der Mann, der – zuständig für den Katastrophenschutz – den Hochwassereinsatz koordiniert. Und er ist engster Vertrauter von SPD-Regierungschef Matthias Platzeck, der auf dem Rückweg ist aus dem Urlaub. Speer versucht, überall zu sein. Er hat sich in einem Hotel in Frankfurt einquartiert, sein Basislager, wenn er nicht vor Ort an den Deichen ist.

In der Nacht war er auf der anderen Seite im polnischen Slubice, das noch gefährdeter ist, weil die polnischen Schutzwälle schlechter sind. Er ist mit seinem Rad rübergefahren, das er extra mitgenommen hat. „Ich muss ja beweglich sein“, sagt er und denkt an die Welle, die sich von Ratzdorf nach Frankfurt durch den Fluss schiebt, zu seiner engsten und am dichtesten besiedelten Stelle, die ihn anschwellen lassen könnte zu einer großen Flut.

Sie könnte, muss es aber nicht. Die Welle hat ihre eigenen Gesetze. Aber niemand kennt sie ganz genau.

Rainer Speer telefoniert pausenlos. Mit dem Krisenstab in Potsdam – und mit Matthias Freude, dem Chef des Landesumweltamtes. Der steht am Donnerstagmittag auf einem anderen Deichabschnitt, einem neuen nahe Ziltendorf. Wäre das Wasser nicht so bedrohlich, fast könnte die Szenerie idyllisch sein. Vier Entenfamilien kämpfen gegen die Strömung, auf dem unter Wasser stehenden Sportplatz gehen Störche auf die Jagd nach Fröschen.

„Die neuen Deiche funktionieren wie eine frühere Stoffwindel bei Babys“, erklärt Freude. „Sie lassen nur etwas Feuchtigkeit durch, halten aber auf jeden Fall dicht.“ Begeistert zeigt er auch dem Landrat Manfred Zalenga das klare Wasser hinter dem Deich. Der Filter funktioniere wunderbar, sagt er. „Ohne die neuen Deiche müssten wir alle längst Reißaus nehmen. Bei der letzten Flut rutschten die uns wie Schmierseife einfach weg.“

Lebhaft sind allen Beteiligten die Bilder vom Hochwasser 1997 in Erinnerung, als sich das tobende Oderwasser seinen eigenen Ausweg aus der Zwangslage suchte und den Damm in der Ziltendorfer Niederung eben nördlich von Eisenhüttenstadt gleich zweimal wegschwemmte. Fast 300 Häuser versanken.

220 Millionen Euro hat der Neubau für 163 Brandenburgische Deichkilometer seither gekostet. „Unsere Vorfahren haben für die Dämme noch alles zusammengekarrt, was sie finden konnten: Sand, Steine, Mutterboden und Abfall“, erklärt der Umweltbeauftragte Freude. Heute jedoch sei das alles kompliziertes Ingenieurbauwesen, mit ganz besonderen Kiessorten. „Die halten und brechen nicht so leicht wie die Dämme in Polen.“

Im Nachbarland, wo sich die Fluten schon seit Tagen ihren Weg bahnen, ist die Lage dramatischer. Die Deiche – zu tief oder porös – schützen das Hinterland nur bedingt. Die Innenstadt von Krosno, 70 Oder-Kilometer südlich von Frankfurt, ist seit Mittwochnacht versunken. Und auch Slubice gegenüber von Frankfurt bereitet sich auf Schlimmes vor. Experten sagen zwar voraus, dass die Pegelstände nicht so hoch steigen werden wie 1997, bei der „Jahrhundertflut“. Aber was heißt das schon, wenn südlich der Stadt der Boden langsam weich wird, weil das Wasser hinter einer Sandsackbarriere von unten aus der Erde quillt? Teile der 17 000-Einwohner-Stadt Slubice liegen unterhalb des Oderpegels.

Auf der deutschen Seite des Flusses wähnen sich Anwohner und Schaulustige in Sicherheit, besorgt und fasziniert starren sie in die Wassermassen, die von Ratzdorf herunterkommen. Dort, 42 Kilometer stromaufwärts, wo Oder und Neiße zusammenfließen, blicken Einheimische ungläubig auf die Anzeige am dieser Tage schon berühmt gewordenen Pegelhäuschen, das als eine kleine Insel aus den Fluten ragt. Es ist ein verstörendes Bild und ein gewaltiges Schauspiel.

„Die Oder passt nicht mehr in den flussabwärts kleiner werdenden Platz zwischen den Deichen und läuft teilweise wieder zurück“, sagt Landrat Zalenga, der oberster Katastrophenschützer des Abschnitts ist. Vor rund 24 Stunden hat er die höchste Alarmstufe ausgelöst. „Es ist schon sagenhaft, welche Kräfte hier wirken“, sagt er. Kräfte, die Dämmen, die nach der Flut vor 13 Jahren teils noch immer saniert werden, zum Verhängnis werden könnten. Weswegen Feuerwehrleute Sandsäcke in der Ziltendorfer Niederung stapeln, um die erst teilweise erneuerten Deiche zu verstärken. Im Hintergrund dröhnen die Motoren von Lastwagen, die kommen und neue Säcke bringen. Der Fluss findet jede Schwachstelle.

Irgendwann, Rainer Speer sitzt im Foyer seines Hotels, ruft der Mann an, auf den an der Oder am Donnerstag viele warten: Matthias Platzeck, gerade in Berlin-Tegel gelandet. Seinen Urlaub am Mittelmeer hat er abgebrochen, der „Deichgraf“ der Jahrhundertflut von 1997, die ihn bekannt machte, die vielleicht seine Karriere zum Regierungschef erst ermöglichte. „Die Lage ist ernst, aber beherrschbar. Noch steigt das Wasser“, berichtet ihm Speer. Und, nein, es sei noch lange nicht vorbei. „Das Schlimmste kommt noch.“ Das sagt er und weiß doch, dass man keiner Prognose trauen kann.

Am Vortag, als binnen Stunden die Pegel dramatisch schnell Marke um Marke nahmen, als die Vorhersagen des Landesumweltamtes plötzlich nicht mehr galten, herrschte erstmals bei diesem Hochwasser hinter den Kulissen dramatische Unruhe. Es gab Planspiele, ob die Neuzeller Niederung – ein künftiger Polder – geflutet werden muss, wenn das Wasser weiter so schnell steigt. Noch stehen dort aber eintausend Wochenendgrundstücke. Wer wollte den Zorn der Bürger auf sich ziehen? In der Nacht dann die Entwarnung. Nein, es wird nicht geflutet, hat Speer entschieden.

Für Frankfurt heißt das: keine Entlastung. Seit dem Morgen ist das Wasser um einen Meter angestiegen, steht mittags bei 5,42 Meter und drückt durch die provisorischen Spundwände. Das Flussbett ist hier besonders eng, ein Nadelöhr, was den Druck auf die Deiche erhöht. „Das muss alles durch“, sagt Speer lakonisch.

Es ist 14.45 Uhr, als Matthias Platzeck eintrifft, am Winterhafen in Frankfurt, einem früheren Umschlaghafen. Von dort fährt er mit seinem Krisenmanager und Anita Tack, der Umweltministerin, in einem Feuerwehrboot ein paar Kilometer flussaufwärts, als wäre eine Bootstour jetzt genau das Richtige auf dem mächtigen Strom. Dann, auf trockenem Boden, wird er sofort umringt von Fernsehteams, von Reportern. Sofort ist alles wie 1997, als Platzeck mit ernster Miene, aber trotzdem unaufgeregt, Fernsehdeutschland Tag für Tag die Lage schilderte. „Und die ist vergleichbar mit der damaligen Situation“, sagt Platzeck nun, 2010. Vielleicht solle man mit Begriffen wie Jahrhunderthochwasser, das sich offensichtlich häufe, vorsichtiger sein, sagt er.

Platzeck hat seine Hochwasserlektionen gelernt. Die Deiche seien fast durchgängig saniert, das Krisenmanagement klappe besser, auch die Abstimmung mit den polnischen Nachbarn. Dann wird er gefragt, warum weitgehend unterblieb, was er als Umweltminister 1997, was die damalige Bundesumweltministerin Angela Merkel versprochen hatten, nämlich den Flüssen ihre Räume zurückzugeben. Auch in Brandenburg, das der Deichgraf seit 2002 regiert, ist das kaum geschehen. 60 000 Hektar sind es bloß. Matthias Platzeck holt kurz Luft: „Es ist immer noch mehr als anderswo in Deutschland, als in Europa.“ Dann fügt er den Satz hinzu, der das erste Versprechen dieser Oder-Flut, anno 2010, ist. „Es reicht nicht.“

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