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Diese politischen Bücher sollten Sie im Sommer lesen.

© mauritius images / Westend61 / Christine Müller

Das Tagesspiegel-Ressort Internationale Politik empfiehlt: Diese fünf politischen Bücher sollten Sie diesen Sommer lesen

Die Buchempfehlungen unserer Redaktion für Internationales – über Staatsverbrechen, die Natur von Bürgerkriegen und den „größten Fehler“ der Bundesrepublik.

1. Die unbequeme Vergangenheit

Nikolai Epplée: Die unbequeme Vergangenheit. Vom Umgang mit Staatsverbrechen in Russland und anderswo. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 599 Seiten, 30 €.
Nikolai Epplée: Die unbequeme Vergangenheit. Vom Umgang mit Staatsverbrechen in Russland und anderswo. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 599 Seiten, 30 €.

© Bearbeitung: Tagesspiegel/Suhrkamp Verlag

Ende 2021 wurde die russische Menschenrechtsorganisation „Memorial“ von Staats wegen aufgelöst. Bald darauf begann der Überfall auf die Ukraine. Beides gehört zusammen.

„Wenn der Angriff auf die Ukraine im Tiefsten dadurch motiviert ist, dass die russische Staatsführung die sowjetischen Regierungs- und Existenzpraktiken, das imperiale und koloniale Erbe des Stalinismus, weder aufgeben will noch kann, dann ist die Frage, wie sich diese Vergangenheit aufarbeiten lässt, praktisch das Schlüsselproblem, das gelöst werden muss, um die Ursachen für diesen Krieg mit der Wurzel auszureißen.“

So formuliert es der russische Publizist Nikolai Epplée im neuen Vorwort seines Buches „Die unbequeme Vergangenheit. Vom Umgang mit Staatsverbrechen in Russland und anderswo“.

In Russland erschien das Buch bereits 2020. „Der Schmerz, der vor allem mit der Stalinzeit assoziiert wird,“ betont Epplée, „ist vielleicht die einzige wirklich gemeinsame Erfahrung, die nicht nur die Russen, sondern alle Bewohner des postsowjetischen Raums eint oder einen könnte.“

Wie andere Länder mit Verstrickung und Schuld umgehen, untersucht Epplée anhand von Argentinien, Spanien, Südafrika, Polen, Deutschland und Japan. Daraus sucht er einen Weg für Russland aufzuzeigen, mit der eigenen Vergangenheit umzugehen. Epplée schildert eindrucksvolle individuelle Beispiele der Aufarbeitung, die den biografischen Zugang zu Tätern und Opfern suchen und ihnen vor allem ihre Namen zurückgeben.

Epplées Buch kommt zu spät. Die „Infrastruktur der Erinnerung“, die er am Ende skizziert, ist unter den Bedingungen des Ukraine-Kriegs illusorischer denn je. Und zugleich kommt sein Buch zu früh. Denn erst, wenn der jetzige Krieg ist, kann es zur Wiederaufnahme jener Arbeit an der Vergangenheit kommen, die „Memorial“ begonnen hatte.

Die sowjetische Vergangenheit ist nicht vergangen. Sie ist, zitiert Epplée einen Kollegen, „das Fundament, auf dem Russland steht“. Es ist das Schreckensregime Stalins mit seinen Millionen von Toten. (Bernhard Schulz)


2. Die Macht der mutigen Frauen. Neue Bücher über die Protestbewegung im Iran

Der Iran brennt: Mitte September vergangenen Jahres begannen die Proteste wegen des Tods von Jina Mahsa Amini, die in Polizeigewahrsam ums Leben  kam.
Der Iran brennt: Mitte September vergangenen Jahres begannen die Proteste wegen des Tods von Jina Mahsa Amini, die in Polizeigewahrsam ums Leben kam.

© dpa/uncredited

Frau. Leben. Freiheit. Drei Wörter wie ein Schlachtruf. Millionenfach skandiert in den vergangenen Monaten – als Zeichen der Entschlossenheit, des Widerstands und der Wut. Zu hören war und ist der kämpferische Slogan nicht nur im Iran, sondern weltweit. Überall solidarisieren sich die Menschen mit der Freiheitsbewegung, die bis heute ein Ziel eint: das Mullah-Regime zu stürzen.

Als Jina Mahsa Amini am 16. September 2022 in Polizeigewahrsam eines gewaltsamen Todes stirbt und einen Tag später in ihrer kurdischen Heimatstadt Saqqez beerdigt wird, hoffen oder rechnen wohl nur die Wenigsten damit, dass in den folgenden Wochen und Monaten ein Orkan der Empörung über das Land hinwegfegt. Einer, der das Kleriker-Machtgebäude fast zum Einsturz bringt.

Nur gnadenlose Gewalt, Folter, Mord und Hinrichtungen – gängige Herrschaftsinstrumente seit Bestehen der Islamischen Republik – konnten den Bestand der Diktatur sichern. Für den Moment. Doch keine Frage: Die Herrschaft der bärtigen Fanatiker und Ideologen hat schweren Schaden genommen.

Millionen Menschen im Iran verweigern ihnen die Gefolgschaft, lehnen sich auf, fordern das Ende der Willkür und der verhassten Islamischen Republik.

In der ersten Reihe der Aufbegehrenden stehen seit Beginn der Proteste Frauen. Ältere, die seit Jahrzehnten unter den Restriktionen der Mullahs leiden, sind ebenso dabei wie Schülerinnen und Studentinnen, die nichts anderes kennen als den Zwang zum Kopftuchtragen, Unterdrückung und Misshandlung. Sie fordern die Mächtigen heraus – allein schon, indem sie sich schlicht weigern, der Pflicht zur Verschleierung Folge zu leisten.

Herausholen aus Opferrolle

Diesen furchtlosen Iranerinnen sind gleich zwei lesenswerte Neuerscheinungen gewidmet. Sowohl Gilda Sahebis Buch „Unser Schwert ist Liebe“ als auch der von Natalie Amiri und Düzen Tekkal herausgegebene Band „Wir haben keine Angst“ stellen explizit Frauen in den Mittelpunkt.

Gilda Sahebi: „Unser Schwert ist Liebe.“ Die feministische Revolte im Iran. S. Fischer 2023, 256 Seiten, 24 €.
Gilda Sahebi: „Unser Schwert ist Liebe.“ Die feministische Revolte im Iran. S. Fischer 2023, 256 Seiten, 24 €.

© S. Fischer

Auch die Zielsetzungen ähneln sich: Es geht zum einen darum, die Frauen aus der Opferrolle herauszuholen, in die sie das Regime zwingen will. Zum anderen werden Frauen als treibende Kraft im Kampf für Gleichberechtigung, Freiheitsrechte und Demokratie gewürdigt. Mit etwas Pathos ausgedrückt: Den wehrhaften Iranerinnen wird ein Denkmal gesetzt. Zu Recht.

Schikanen der Herrschenden

Natalie Amiri und Düzen Tekkal setzten dabei vor allem auf die Wucht der Emotionen und Authentizität. Sie lassen 15 Frauen zu Wort kommen, die sich gegen dieSchikanen des Regimes wehren.

Natalie Amiri, Düzen Tekkal: Wir haben keine Angst! Die mutigen Frauen Irans. Elisabeth Sandmann Verlag, München 2023. 143 Seiten, 25 €. 
Natalie Amiri, Düzen Tekkal: Wir haben keine Angst! Die mutigen Frauen Irans. Elisabeth Sandmann Verlag, München 2023. 143 Seiten, 25 €. 

© Elisabeth Sandmann Verlag

Zum Beispiel die Schachschiedsrichterin Shohreh Bayat, der bei der Weltmeisterschaft der Frauen in Shanghai 2020 von iranischen Staatsmedien vorgeworfen wurde, das Kopftuch unangemessen getragen zu haben und es deshalb nicht mehr wagte, in ihre Heimat zurückzukehren.

Oder Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi, die wegen ihres Einsatzes für Menschenrechte bedroht wurde, das Land verließ und aus dem Exil ihre Stimme gegen Irans Herrscher erhebt.

Oder Narges Mohammadi, die seit Jahren Freiheitsrechte kompromisslos einfordert, immer wieder verhaftet wurde und heute im berüchtigten Evin Gefängnis festgehalten wird.

Ihr Brief wurde herausgeschmuggelt. Darin schreibt sie: „Wir werden weiter auf die Straßen gehen, nicht nachgeben, uns nicht zurückziehen, bis zum Sieg, bis zur Errichtung der Demokratie, der Herstellung von Frieden und Menschenrechten, bis zur Abschaffung der Tyrannei.“

Diese Zuversicht kommt auch bei Gilda Sahebi zum Ausdruck und jenen, die sie über Erlebtes und Erlittenes berichten lässt. Sie schildern, wie ihnen sexualisierte Gewalt angetan wird, wie sie tagtäglich mit Frauenfeindlichkeit konfrontiert sind, wie sie als Mitglieder religiöser oder ethnischer Minderheiten unterdrückt werden. Die besondere Stärke des Buches ist allerdings die politische Analyse.

Breite Basis der Revolte

Der Journalistin gelingt es zum Beispiel auf 35 Seiten, die Entwicklung der Amini-Protestbewegung prägnant zu schildern und einzuordnen. Sie macht dabei deutlich, wie weit und tief der Wunsch nach revolutionären Veränderungen in weiten Teilen des Volkes verbreitet ist.

Denn anders als bei anderen Aufständen, die das Land seit der Machtübernahme der Islamisten 1979 immer wieder erschüttern, stützt sich die jüngste Revolte auf eine breite Basis. Frauen und Männer, Arbeiter und Akademiker, Junge und Alte, Belutschen und Kurden – sie alle wollen das Ende des Regimes herbeiführen.

Viele Iranerinnen und Iraner sehen es wohl wie Gilda Sahebi. Der größte Teil der Menschen im Iran sehne sich nach Freiheit und Demokratie.

„Niemand weiß, wie lange sie dafür werden ihr Leben geben müssen. (...) Es kann Monate dauern. Jahre. Aber das Regime hat schon verloren. Die Menschen. Seine Existenzberechtigung. Macht, Geld und Einfluss haben keine Chance gegen das, wofür die Menschen im Iran kämpfen: Frau, Leben, Freiheit. Und für die Liebe zueinander.“ (Christian Böhme)


3. Wie Bürgerkriege ausbrechen. Und wie sie verhindert werden können 

Die Waffenruhe im Bürgerkriegsland Syrien ist brüchig.
Die Waffenruhe im Bürgerkriegsland Syrien ist brüchig.

© dpa/EPA/Mohammed Badra

Jahrzehntelang hat Barbara F. Walter zu Bürgerkriegen geforscht. Gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern entwickelte die Professorin für Internationale Beziehungen eine Liste mit 30 Risikofaktoren für einen drohenden Konfliktausbruch in einer Gesellschaft.

Dann wendete sie ihre Erkenntnisse auf ihr eigenes Land an. Und kam zu einem erschreckenden Ergebnis. Denn ausgerechnet die beiden Faktoren mit der stärksten Aussagekraft sieht Walter, die an der University of California in San Diego lehrt, in den Vereinigten Staaten besonders ausgeprägt.

In ihrem Buch „Bürgerkriege. Warum immer mehr Staaten am Abgrund stehen“ konzentriert sich Walter vor allem auf die USA, wirft aber gleichzeitig auch einen Blick auf die weltweiten Entwicklungen. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Ausschreitungen in Frankreich und dem Erstarken der rechtsextremen AfD in deutschen Kommunen lesen sich ihre Ausführungen mit großem Gewinn.

In ihrem verständlichen Werk gelingt es der Wissenschaftlerin, anhand konkreter Fälle – sei es im Libanon, in Nordirland oder Ruanda – grundsätzliche Muster und Indikatoren für den Ausbruch von Bürgerkriegen zu veranschaulichen.

Zwei zentrale Risikofaktoren

Es läge nahe zu vermuten, dass das Risiko umso höher liegt, je ärmer, je undemokratischer ein Land ist. Doch sowohl in vollständigen Demokratien als auch in reinen Autokratien brächen nur selten Bürgerkriege aus, schreibt Walter. Besonders bürgerkriegsgefährdet sind aus ihrer Sicht sogenannte Anokratien. Dabei handelt es sich um Staaten in der demokratischen zwischen Demokratie und Autokratie.

Barbara F. Walter: Bürgerkriege. Warum immer mehr Staaten am Abgrund stehen. Hoffmann und Campe, Hamburg 2023. 320 Seiten, 26 €
Barbara F. Walter: Bürgerkriege. Warum immer mehr Staaten am Abgrund stehen. Hoffmann und Campe, Hamburg 2023. 320 Seiten, 26 €

© Hoffmann ud Campe

Ein Kennzeichen für Anokratien sei, dass dort zwar freie Wahlen durchgeführt würden, jedoch nicht ganz fair abliefen und nicht allen Bürger die Teilhabe ermöglicht würde. Als Beispiele führt die Wissenschaftlerin unter anderem Ungarn und die Türkei an.

Ein zweiter erheblicher Risikofaktor sei der ethnische Faktionalismus. Dieser liege vor, wenn politische Organisation nicht auf der Basis von Ideen, sondern von Identität geschehe, zum Beispiel aufgrund von religiösen oder ethnischen Kriterien. An die Stelle einer Politik für das gesamte Land tritt dann die Sicherung von Privilegien für eine Minderheit, analysiert Walter.

Ethnische Unternehmer machten sich gesellschaftliche Spannungen gezielt zunutze und beschleunigten mit rhetorischer Brandstiftung eine „Spirale der Verunsicherung“. Ihre Reichweite sei mit dem Internet und den sozialen Medien exponentiell gestiegen. Herkömmliche Kontrollmechanismen funktionieren heute nicht mehr, warnt die Wissenschaftlerin, Institutionen und traditionelle Medien wirkten nicht mehr als Filter.

Die USA sind stark gefährdet

In Ländern, in denen diese beiden Faktoren zu beobachten sind, liegt die Bürgerkriegsgefahr für Walter besonders hoch. Und dazu zählen für sie die USA. Walter sieht die amerikanische Demokratie seit Jahren im Niedergang begriffen. Der einstweilige Zenit sei am 6. Januar 2021 mit dem Sturm auf das Kapitol erreicht worden.

Barbara F. Walter ist Professorin für Internationale Beziehungen an der University of California in San Diego
Barbara F. Walter ist Professorin für Internationale Beziehungen an der University of California in San Diego

© Barbara F. Walter

Die Gefahr sei keineswegs gebannt. Denn Präsident Trump hat aus Sicht der Professorin sein Potenzial nicht ausgeschöpft – zu sehr sei ihm sein Narzissmus im Weg gestanden. Ein möglicher Nachfolger, der sich Trumps Narrativen bediene, aber strategischer vorgehe, könne noch viel mehr Schaden anrichten.

Der Fall USA zeige auch, schreibt Walter, dass es meist nicht traditionell marginalisierte Gruppen sind, die politische Konflikte eskalieren, sondern solche, die einen Statusverlust befürchten. Walter skizziert ein Szenario für das Jahr 2028, in dem in den USA ein Bürgerkrieg ausbricht. Nicht als Vorhersage, sondern als Warnung. Denn weit sei das Land davon nicht mehr entfernt.

Die Botschaft der Wissenschaftlerin ist jedoch nicht fatalistisch. Ihr Buch endet mit konkreten Lösungsansätzen. Ein Schlüssel sei die Regulierung der sozialen Medien, die Walter als „entartet“, als „destruktive Kraft“ bezeichnet.

Anfangs hätten sie Menschen zusammengebracht, nun würden sie spalten. Analog zu Gefahrstoffen wie Drogen und Medikamenten müssten auch die sozialen Medien einer strengeren Kontrolle unterliegen. (Anja Wehler-Schöck)


4. Femina

Wenn ein Ehepaar einen Witz erzählt, dann hängt die Pointe oft davon ab, ob der Mann oder die Frau das letzte Wort behält. So ist es auch mit der Geschichtsschreibung: Historiographie ist eine Frage der Macht. Was erzählt wird, hängt davon ab, wer das Heft – oder den Griffel – in der Hand hat. Janina Ramirez hat dies in ihrem Buch „Femina“ sehr anschaulich dargestellt.

Die Historikerin an der Oxford University in England hat die Geschichte des Mittelalters noch einmal anders aufgeschrieben. Wo sich sonst Karl der Große und Marco Polo in der Zeit zwischen 500 und 1500 auf der Bühne tummeln, holt Ramirez die einflussreichen Frauen der Epoche vor den Vorhang.

Was die Leserinnen und Leser der deutschen Ausgabe – in der Übersetzung von Karin Schuler – vielleicht erfreuen wird: Das Buch wird mit einem Zitat von Hildegard von Bingen eingeleitet: „Ich bin das feurige Leben, die göttliche Substanz.“

Janina Ramirez: Femina. Eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen, Aufbau-Verlag Berlin 2023, 522 Seiten, 28 €.
Janina Ramirez: Femina. Eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen, Aufbau-Verlag Berlin 2023, 522 Seiten, 28 €.

© Bearbeitung:Tagesspiegel/Aufbau Verlag

Die deutsche Nonne und spätere Äbtissin gilt als eine der einflussreichsten Frauen des Mittelalters – sie war als Heilerin, Mystikerin und Komponistin die Universalgelehrte des 12. Jahrhunderts schlechthin. Zu Lebzeiten korrespondierte sie mit Päpsten, heute wird sie von den Katholiken als Heilige verehrt – und ihre himmlischen Chöre werden als Trance-Musik in Nachtklubs recycelt.

Historikerin Ramirez aber schreibt auch über Kriegerinnen, die nach der männlichen Geschichtsschreibung lange gar nicht existierten.

Die Wikinger waren schließlich doch Männer. Oder? 2017 fand man beim DNA-Test eines mittelalterlichen Zahnes in Schweden heraus, dass es sich bei einem als „Birka-Kämpfer“ abgespeicherten Skelett um eine Kämpferin handelt: „Die Wikinger-Kultur war ein weniger rigides Patriachat als gedacht“, schreibt die Autorin.

Über Königinnen wie Jadwiga von Polen und der Geschäftsfrau und Influencerin Margery Kempe nähert sich Janina Ramirez gegen Ende ihrer Zeitreise den Outcasts an, sie untersucht die Rolle von Frauen in Sklaverei und Prostitution im Mittelalter. Die Londoner Hure Eleanor Rykener etwa hatte am liebsten mit Priestern zu tun. Sie zahlten einfach besser. (Tessa Szyszkowitz)


5. Gerhard Schröder und die Moskau-Connection. Männerfreundschaft, Gier und Starrsinn

In der Nacht zum 7. Januar 2001, am orthodoxen Weihnachtsfest, sitzen Gerhard Schröder und Wladimir Putin in dessen Landhaus und plaudern bei Fisch, Sauerkraut und Wodka bis vier oder fünf Uhr morgens. Zuvor waren sie in der Sauna. Es ist der Beginn einer Männerfreundschaft – und der Grundstein für den laut Reinhard Bingener und Markus Wehner „größten Fehler der deutschen Außenpolitik seit Gründung der Bundesrepublik“.

Die „FAZ“-Journalisten rekonstruieren eindrücklich, wie Deutschland aktiv in die Energie-Abhängigkeit ging und sich dabei über den mörderischen Charakter des Putin-Regimes belog – ein Schein, der endgültig erst 2022 mit Russlands Ukraine-Krieg fiel. Waren es Trotz, Gier, Starrsinn, die Schröders Netzwerker zu Kreml-Apologeten machten?

Beantworten können das nur die Akteure selbst, von Heino Wiese und Frank-Walter Steinmeier über Sigmar Gabriel und Stephan Weil bis Manuela Schwesig. Aber das Buch, fraglos einer der politischen Titel des Jahres, macht einen wuchtigen Anfang.

Reinhard Bingener und Markus Wehner: Die Moskau-Connection. Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit. C.H. Beck, München 2023, 304 Seiten, 18 €
Reinhard Bingener und Markus Wehner: Die Moskau-Connection. Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit. C.H. Beck, München 2023, 304 Seiten, 18 €

© C.H. Beck

Schon in den 1980ern sei die Ostpolitik der SPD-Säulenheiligen Willy Brandt und Egon Bahr derart deformiert gewesen, dass von „Wandel durch Annäherung“ nur die Annäherung blieb. Unter Außenminister Steinmeier, Schröders Ex-Kanzleramtschef, wurde daraus „Annäherung durch Verflechtung“.

Auch die Sowjetsympathie des Ex-Juso-Chefs Schröder spielte eine Rolle, dazu Anti-Amerikanismus – zunächst bestätigt von der richtigen Absage des Kanzlers bezüglich der Irak-Invasion 2003. Doch aus der Distanzierung von den USA wurde eine extreme Russland-Nähe. Der Lobbyist Schröder erhielt Posten bei Gazprom, Rosneft und Nord Stream. Als Altkanzler standen ihm die Türen in die Politik weiter offen.

Inzwischen hat seine Partei ihn geschasst. Aber: „Die Aufmerksamkeit für Schröder entlastet die Moskau-Connection der SPD davon, sich der eigenen Verantwortung zu stellen.“

Zu nennen seien vor allem der Bundespräsident, der die „Steinmeier-Formel“ ersann und der Nato 2016 „Säbelrasseln und Kriegsgeheul“ vorwarf, sowie Ex-Wirtschafts- und -Außenminister Gabriel, der Putin 2015 um ein Autogramm bat und die Kämpfe im Donbass als „Bürgerkrieg“ bezeichnete.

Wehner und Bingener kritisieren, dass nur in Schwerin, wo Schwesig sich mit einer Fake-Umweltstiftung für Nord Stream 2 eingesetzt hatte, ein U-Ausschuss eingerichtet wurde. Gut weg kommen die Grünen und die FDP, die aber im Bund mit der SPD koalieren. „Im Ergebnis lässt im Bundestag eine All-Parteien-Koalition die Vergangenheit lieber ruhen.“

Das sachlich schonungslose Buch legt den Finger in die Wunde der deutschen Abneigung gegen geostrategisches Denken. Nach der Lektüre bleibt deshalb auch die Sorge, Deutschland könnte seine Fehler bei einem aggressiven China wiederholen. Und der Altkanzler ist offenbar nicht so isoliert wie nach außen sichtbar. „Denn der enge Zirkel um Schröder trifft sich weiter“, wissen die Autoren. (Cornelius Dieckmann)

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