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Die Türkei nimmt seit Jahren weltweit am meisten Flüchtlinge auf.

© Reuters/Umit Bektas

Flucht in den Norden der Welt: Europa kann sein „Flüchtlingsproblem“ nicht auslagern

Härterer Grenzschutz, Rückführungen, Aufnahmestopp. Europas Asylpolitik schafft derzeit keine langfristig umsetzbaren Lösungen, sondern Leid und politische Instabilität.

Ein Gastbeitrag von Marcus Engler

Seit Monaten stehen viele Städte und Kommunen bei der Aufnahme von Schutzsuchenden aus der Ukraine und anderen Staaten vor enormen Herausforderungen. Landräte schlagen Alarm, mancherorts gibt es Proteste in der Bevölkerung, und sogar Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte mehren sich wieder.

Vor diesem Hintergrund fordern manche einen Aufnahmestopp: Flüchtlinge sollen nicht mehr in Deutschland, sondern in anderen Staaten Aufnahme finden – vorzugsweise außerhalb Europas.

Drei Vorschläge werden regelmäßig vorgebracht: Erstens sollen mehr Menschen abgeschoben werden. Zweitens soll der Schutz der Außengrenzen verstärkt werden. Drittens sollen Asylverfahren in andere Staaten ausgelagert werden und mehr Flüchtlinge dort aufgenommen, humanitäre Aufnahmeprogrammen dagegen gestoppt werden.

Migrationsabkommen als neue Zauberformel

Um das umzusetzen, gelten Migrationsabkommen als neue Zauberformel. Die Bundesregierung hat im Februar mit Joachim Stamp (FDP) erstmalig einen Sonderbeauftragten eingesetzt, der solche Abkommen aushandeln soll.

Europa löst eine humanitäre Abwärtsspirale aus und bringt sich in eine schlechte Verhandlungsposition.

Marcus Engler, Sozialwissenschaftler am DeZIM-Istitut

Wie Deutschland sind die meisten europäischen Regierungen nur begrenzt dazu bereit, Flüchtlinge aus verschiedenen Weltregionen aufzunehmen. Von seinen Nachbarländern erwartet Europa dagegen, dass sie sie in großen Zahlen in ihre Gesellschaften integrieren oder zumindest versorgen.

Außerdem sollen sie auch ihre eigenen Bürger:innen daran hindern, ungefragt nach Europa zu kommen, und diejenigen, die in die EU gelangt sind, wieder zurücknehmen. Im Gegenzug bietet die Europäische Union finanzielle Hilfen und andere Formen der Unterstützung an.

Solche Abkommen mit Nachbarstaaten der EU sind seit langem Bestandteil der europäischen Migrationsaußenpolitik. Im „Neuen Pakt zu Migration und Asyl“ der EU, der im September 2020 vorgestellt wurde und seither den Rahmen der Migrationspolitik bildet, sind sie ein zentrales Element.

Fallbeispiele: Türkei und Tunesien

Im Folgenden werfen wir einen kurzen exemplarischen Blick auf zwei Länder, in denen wir Forschung gemacht haben und die in der Debatte eine wichtige Rolle spielen: Die Türkei und Tunesien. Beide sind nicht nur deshalb wichtige Partnerstaaten europäischer Politik, weil sie an wichtigen Migrationsrouten liegen, sondern auch, weil sie bis vor kurzem noch als relativ stabil gelten konnten.

Uniformierte an der befestigten griechisch-mazedonischen Grenze 2016. Europa zieht immer höhere Grenzzäune.
Uniformierte an der befestigten griechisch-mazedonischen Grenze 2016. Europa zieht immer höhere Grenzzäune.

© dpa/Nake Batev

Mit der Türkei gibt es seit 2016 ein umfangreiches Abkommen. Doch nur noch wenig davon wurde umgesetzt. Kurz gesagt unterstützt die EU die Türkei finanziell, damit sie die mehr als drei Millionen syrischen Flüchtlinge dort versorgt.

Im Gegenzug nimmt die Türkei die Flüchtlinge auf und sorgt mit Grenzkontrollen dafür, dass nur wenige weiter in die EU reisen. Zudem nehmen die EU-Staaten – und hier vor allem Deutschland – über ein humanitäres Aufnahmeprogramm einige Flüchtlinge aus der Türkei auf. Häufig als Erfolgsmodell oder Blaupause für andere Staaten gepriesen, hat dieser Deal seine Schattenseiten.

Die Türkei schiebt Tausende nach Afghanistan ab

Die Präsenz der vielen Flüchtlinge führt seit Jahren zu erheblichen Konflikten in der Türkei. Flüchtlinge werden von mehreren Parteien für die tiefe politische und ökonomisch Krise verantwortlich gemacht. Immer wieder kommt es zu gewaltsamen Übergriffen und sogar Morden.

Im aktuellen Wahlkampf übertreffen sich die Parteien in Versprechungen, wie schnell sie die Flüchtlinge nach Syrien zurückführen wollen, ungeachtet der dortigen Sicherheitslage. Noch schlimmer ist die Lage der Afghanen: Sie werden nicht einmal mehr registriert und zu Tausenden nach Afghanistan abgeschoben.

Die gravierenden Rechtsverletzungen der griechischen Behörden werden in der Türkei sehr aufmerksam beobachtet. In der Folge haben verlieren sämtliche Appelle europäischer Regierungen an die Türkei, die Menschenrechte zu achten, ihre Glaubwürdigkeit.

Marcus Engler, Sozialwissenschaftler

An den Grenzen zu Syrien und dem Iran hat die Türkei nach europäischen Vorbild Mauern gebaut, um weitere Flüchtlinge abzuwehren. Viele Menschen starben dort schon. Die Drohungen von Präsident Erdogan, Flüchtlinge nach Europa zu schicken, sind auch das Ergebnis einer Veranwortungsteilung mit der EU, die als sehr ungerecht wahrgenommen wird.

Dies sehen auch Vertreter von Zivilgesellschaft und UN-Organisationen so. Nach dem Fall von Kabul hat die türkische Regierung deshalb Forderungen europäischer Politiker, afghanische Flüchtlinge sollten auf türkischem Territorium Schutz finden, unmissverständlich zurückgewiesen.

Die Türkei nimmt schon seit Jahren weltweit die meisten Flüchtlinge auf. Europa müsste die Türkei bei der Aufnahme von Flüchtlingen deshalb noch stärker unterstützen, mit mehr Geld und mehr Angeboten, sie von dort aufzunehmen. Doch das geschieht nicht.

Ein Aufnahmelager für syrische Flüchtlinge nahe der türkischen Stadt Gaziantep im Jahre 2014.
Ein Aufnahmelager für syrische Flüchtlinge nahe der türkischen Stadt Gaziantep im Jahre 2014.

© AFP/Ozan Kose

Stattdessen verschlechtert sich dort fortwährend die Situation für Flüchtlinge wie für türkische Bürger:innen, die eine andere politische Haltung haben als die Regierung. Menschenrechtsorganisationen bezweifeln deshalb seit Jahren, dass die Türkei ein sicherer Staat ist.

Die gravierenden Rechtsverletzungen der griechischen Behörden, inklusive regelmäßiger Pushbacks von Flüchtlingen, werden von der türkischen Politik und Öffentlichkeit sehr aufmerksam beobachtet. In der Folge verlieren sämtliche Appelle europäischer Regierungen an die Türkei, die Menschenrechte zu achten, ihre Glaubwürdigkeit.

Rassistische Verschwörungstheorien

Tunesien dagegen gilt vielen immer noch als aufstrebende Demokratie. Dorthin könne man guten Gewissens Schutzsuchende zurückführen, die man im Mittelmeer oder an EU-Küsten aufgegriffen hat, und dort könne Europa sogar seine Asylverfahren durchführen, meinen etwa der CDU-Politiker Jens Spahn oder der Migrationsforscher Ruud Koopmans. Solche Ideen gibt es seit Jahrzehnten.

Sie wurden aber aufgrund rechtlicher Bedenken nicht umgesetzt, und die tunesische Regierung war dazu auch – wie alle anderen angefragten Regerungen – bisher nicht bereit. Sie befürchtet, dass ihr Land dann noch mehr Flüchtlinge und Migrant:innen anziehen könnte. Zudem ist die Kooperation mit Europa bei der Abwehr von Flüchtlingen alles andere als populär.

Denn aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Krise verlassen jährlich Tausende junge Tunesier:innen das Land. Die besser ausgebildeten nimmt Europa als Fachkräfte auf. Die anderen riskieren ihr Leben bei der Überfahrt nach Europa. Viele werden postwendend abgeschoben.

Die besser ausgebildeten nimmt Europa als Fachkräfte auf. Die anderen riskieren ihr Leben bei der Überfahrt nach Europa.

Marcus Engler

Präsident Kais Saied hat das Parlament aufgelöst und viele Oppositionelle inhaftiert, er wird nur von einer Minderheit unterstützt. Wer trotzdem vorschlägt, Asylverfahren in Tunesien durchzuführen, hat die jüngere Entwicklung des Landes verpasst. Der Demokratisierungsprozess des Landes nach dem „Arabischen Frühling“ ist vorerst vorbei.

Noch schlechter geht es den Flüchtlingen und Migranten aus anderen Ländern, die in Tunesien gestrandet sind. Hunderte von ihnen demonstrierten bereits im vergangenen Jahr monatelang vor UNHCR-Gebäuden und forderten, nach Europa oder Nordamerika umgesiedelt zu werden.

Kaum ein menschenwürdiges Leben

Trotz Flüchtlingsstatus können sie in Tunesien kaum ein menschenwürdiges Leben führen. Sie finden keine verlässlichen Arbeitsplätze und erleben häufig Rassismus.

Migrant:innen aus der Subsahara warten im März 2023 am Flughafen von Tunis auf ihren Rückflug. Ein menschenwürdiges Leben ist in Tunesien nicht mehr garantiert.
Migrant:innen aus der Subsahara warten im März 2023 am Flughafen von Tunis auf ihren Rückflug. Ein menschenwürdiges Leben ist in Tunesien nicht mehr garantiert.

© action press/IMAGESLIVE via ZUMA Press Wire/Hasan Mrad

Im Februar verbreitete Tunesiens Präsident Said selbst rassistische Verschwörungstheorien. Ein Austausch der tunesischen Bevölkerungen werde organisiert. Menschen schwarzer Hautfarbe – darunter auch tunesische Bürger:innen – fürchten seitdem um ihr Leben. Ein Grund mehr, nach Europa zu fliehen.

In anderen Staaten, die gerne als Alternative angeführt werden, um Flüchtlinge aus Europa aufzunehmen, sieht es nicht besser aus. Der britische Deal mit Ruanda ist nicht nur aus rechtlichen Gründen bisher nicht umgesetzt worden. Auch aus Kostengründen wird dieses Modell nicht dazu führen, dass weniger Flüchtlinge nach Europa kommen. Das oft zitierte australische Vorbild gilt bei Expert:innen ebenso als gescheitert.

Europa verspielt seine Glaubwürdigkeit

Es führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei: Europa kann und darf seine Verantwortung für Flüchtlinge nicht auslagern.  Anders als viele glauben, leben die meisten Flüchtlinge weltweit auch nicht in Europa, sondern in Entwicklungs- oder Schwellenländern. Daran hat auch die Aufnahme von mehreren Millionen Flüchtlingen aus der Ukraine in der EU nichts geändert.

Die meisten Flüchtlinge leben weltweit nicht in Europa, sondern in Entwicklungs- oder Schwellenländern.

Marcus Engler

Europa verfügt aber über sehr viel mehr Ressourcen als ärmere Staaten. Es muss diese Staaten bei der Aufnahme von Geflüchteten deshalb viel stärker unterstützen und ihnen helfen, diese Menschen in ihren Gesellschaften zu integrieren und ihnen Zugang zu Bildung, Arbeit und Wohnraum zu gewähren.

Europa sollte aber auch deutlich mehr Flüchtlinge über sichere Aufnahmeprogramme aufnehmen, als das bisher der Fall ist. Darauf hat man sich Ende 2018 im „Globalen Flüchtlingspakt“ geeinigt. Daran sollte Europa anknüpfen. Im Dezember findet das zweite Weltflüchtlingsforum statt, bei dem die Umsetzung des Paktes überprüft werden wird.

Mit dem brutalen Abwehrregime an seinen Außengrenzen verspielt Europa dagegen jegliche Glaubwürdigkeit beim Thema Menschenrechte, löst eine humanitäre Abwärtsspirale aus und bringt sich in eine schlechte Verhandlungsposition, wenn es darum geht, die Verantwortung für Flüchtlinge mit anderen Staaten zu teilen.

Die Fortsetzung dieser Politik führt nicht nur zu mehr Leid und Todesfällen, sondern auch zu politischer Instabilität, an der Europa keinerlei Interesse haben kann.

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