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Frauenprotest in Madrid gegen Femizide und Gewalt gegen Frauen.

© AFP/OSCAR DEL POZO

Historikerin zur EU-Entscheidung: „Teil der Geschichte von Gewalt gegen Frauen“

Dass nur Ja auch Ja bedeutet, soll nun doch nicht in der ganzen EU gelten. Europa hat die Vergewaltigungsnorm aus einer Richtlinie genommen, die der Gewalt gegen Frauen vorbeugen soll. Die Historikerin Laura Schettini sieht die Entscheidung in einer langen Tradition der Frauenverachtung.

Ein Gastbeitrag von Laura Schettini

In der vergangenen Woche ist Vergewaltigung aus der geplanten EU-Richtlinie zur Gewalt gegen Frauen verschwunden. Artikel 5 des Entwurfs sah bis dahin vor, dass eine sexuelle Handlung in der gesamten EU als Vergewaltigung zu definieren und strafrechtlich zu verfolgen sei, wenn sie ohne ausdrückliche Zustimmung geschieht.

Ein Zufall ist das nicht, und anders als die Berichterstatterinnen des Europäischen Parlaments im Eifer des Gefechts behaupteten, auch nicht außerhalb der Geschichte. Sie hat vielmehr eine lange Geschichte. Sie zeugt von einer Sicht auf den weiblichen Körper und auf Sexualität, die unsere europäischen Gesellschaften immer noch durchdringt.

Das Einverständnis der Frau ist in der Rechtsgeschichte stets ein komplexes Thema gewesen. Es wurde im Laufe der Zeiten verschieden behandelt, aber immer lieferte es Vorwände, um Gewalt zu legitimieren. Im Mittelalter und in der Neuzeit galt jeglicher Geschlechtsverkehr einer Frau außerhalb der Ehe als Verbrechen. In der Praxis bedeutete dies, dass Ehebruch, Vergewaltigung und einvernehmliche sexuelle Beziehungen gleichgesetzt wurden.

Ehebruch, lange ein rein weibliches Verbrechen

Das Gesetz verteidigte die weibliche Ehre als Gut von Männern, das auch zwischen Männern ausgehandelt werden musste. Hatte eine ehrbare junge Frau eine außereheliche sexuelle Beziehung, schadete das ihrem Wert auf dem Heiratsmarkt – ob die Frau diese Beziehung wollte oder nicht, spielte keine Rolle.

Die sexuelle Beziehung einer Ehefrau wiederum schadete der Ehre des Ehemanns und gefährdete die Legitimität ihrer Nachkommen. Nicht zufällig war Ehebruch jahrhundertelang ein Verbrechen, das nur Frauen begehen konnten – in Italien wurde das erst 1969 aus dem Strafgesetzbuch getilgt.

Weil die Zustimmung, der freie Wille der Frau, weder Wert noch Wirkung hatte, wurde auch Vergewaltigung in der Ehe bis zum Ende des letzten Jahrhunderts in vielen Ländern nicht als Gewalt betrachtet; der Vollzug der Ehe war schließlich ein legitimer Akt. In Deutschland zum Beispiel wurde sie erst 1997 strafbar.

Auch über die Vergewaltigung unverheirateter Frauen verhandelten Männer. Von der Frau nahm das Rechtssystem grundsätzlich an, dass sie unfähig sei, selbst zu entscheiden, also auch Sex zuzustimmen. Also war festzustellen, welchen Schaden der außereheliche Geschlechtsverkehr angerichtet hatte.

Die „Reparaturehe“ löscht das Verbrechen

Dann konnten Männer auf eine Reihe von Schutz- und Wiedergutmachungsvorschriften zurückgreifen, die – auch hier wieder – nicht auf den Schutz oder die Entschädigung der Frau zielten, sondern auf die Interessen der patriarchalischen Familie.

Da von Rechts wegen alle ehrbaren Frauen als entscheidungsunfähig und somit als vermutlich verführt galten, war es am Verführer, den angerichteten Schaden materiell auszugleichen. Er konnte der Frau Unterhalt zahlen oder eine Entschädigung an den Familienvater.

Vergewaltigung war bis Ende des 20. Jahrhunderts kein Verbrechen gegen die Person, sondern gegen die Familie oder die öffentliche Moral.

Laura Schettini, Historikerin

Er konnte sie aber auch heiraten, eine „Reparaturehe“ eingehen, wie dies in Italien hieß. Ein weiterer Irrweg, der in Italien bis 1981 per Gesetz vorgeschrieben war, war dabei, dass in diesem Fall das Verbrechen des Vergewaltigers (Verführers?) gelöscht war. Auch hier war nicht interessant, ob die Frau einwilligte oder nicht. Wichtig war nur, dass die außereheliche Beziehung eine eheliche wurde.

Seit dem 19. Jahrhundert hat sich die Debatte darüber verändert, welche Rolle das Einverständnis für die Strafverfolgung von Vergewaltigung spielt. Seit der Aufklärung war es juristisch nicht mehr akzeptabel, dass man Frauen für unfähig hielt, ihren Willen auszudrücken. Das hat für sie aber nichts zum Guten verändert.

Verhalten der Frau im Zentrum der Vergewaltigungsprozesse

Und es änderte auch nichts daran, dass bis Ende des 20. Jahrhunderts Vergewaltigung ein Verbrechen nicht gegen die Person war, sondern – mit Unterschieden von Land zu Land – eines gegen die Familie oder die öffentliche Moral. In dieser Geschichte der Gewalt wurde nur eine neue wichtige Seite aufgeschlagen:

Nun mussten Frauen, die eine Vergewaltigung anzeigten, wenn sie sie überhaupt anzeigen konnten, vor Gericht beweisen, dass sie wirklich nicht eingewilligt hatten, dass sie wirklich „entehrt“ wurden, dass sie den Täter nicht provoziert hatten, vielleicht weil sie geheiratet werden oder weil sie Unterhalt von ihm wollten. Sie mussten womöglich beweisen, dass ihr Nein wirklich Nein bedeutete, dass sie nicht, wie ein verbreitetes Klischee behauptet, Nein sagten, aber im Grunde Ja meinten.

1968
entschied Italiens Verfassungsgericht über den Ehebruchparagrafen: Es verletze die Würde der Frau, wenn nur sie wegen Ehebruch verfolgt werde und kein Rechtsmittel gegen ihren Mann habe, wenn der die Ehe breche.

Das ist uns vertraut, weil Vergewaltigungsprozesse – in Italien zumindest – immer noch auf diese Weise stattfinden. In ihnen geht es um das Sexualleben der Frau, ihre Aufrichtigkeit, ihre Fähigkeit, Widerspruch zu äußern, sich wirklich gegen Gewalt zu wehren und darum, ob sie sie nicht eigentlich gewollt oder provoziert hat.

Insofern ordnet sich die Entscheidung von Brüssel in dieser Woche in eine lange Geschichte ein, in der die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen seit je als wertlos galt, wenn sie nicht sogar mit Misstrauen gesehen wurde. Bliebe noch zu fragen, warum für die EU-Verhandler:innen Gegenwart und Zukunft dieses Verbrechens kein Thema waren.

Drogen, die neue Ebene der Gewalt

In den letzten Jahren stellen die Anti-Gewalt-Zentren eine schwindelerregende Zunahme des Konsums von Betäubungsmitteln fest, wenn Frauen, auch von Gruppen, vergewaltigt werden. Das ist nicht allein ein Phänomen unter Jugendlichen: Man denke an den Ehemann, der seine Frau zehn Jahre lang von andern Männern vergewaltigen ließ, nachdem er sie unter Drogen gesetzt hatte.

Hier geschieht etwas Neues und in wachsendem Ausmaß, das dazu zwingt, sich neu mit der Frage der Einwilligung auseinanderzusetzen und über andere Mittel nachzudenken. Wir sollten uns da nicht nur ernsthaft Gedanken machen über ein Modell männlicher Sexualität, dem es als Vergnügen gilt, einen wehrlosen und zum Objekt gemachten Körper zu vergewaltigen.

Feministinnen fordern deswegen auch ein neues Prinzip: In den 1970er Jahren hieß der Slogan noch „Nein heißt Nein“. Er meinte das Recht der Frauen, ernstgenommen zu werden, Grenzen zu ziehen. Männer sollten die Worte der Frau und diese Grenzen respektieren.

Inzwischen scheint es notwendig, rechtlich, aber auch kulturell durchzusetzen, dass alles, was ohne ausdrückliches Ja oder offenkundiges Einverständnis geschieht, einfach nur eines ist: Gewalt, Vergewaltigung, der Missbrauch von Macht.

Es dürfte kein Zufall sein, dass in Italien derzeit zwei Prozesse die größte Medienaufmerksamkeit haben, in die zwei junge Männer mit mächtigen Vätern verwickelt sind, die Söhne von Parlamentspräsident Ignazio La Russa und des Gründers der Fünf-Sterne-Bewegung, Beppe Grillo. Auch hier geht es um Gruppenvergewaltigung, auch hier waren Drogen im Spiel.

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