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Eine Rettungsaktion in einem überfluteten Gebiet nach dem Zusammenbruch des Kachowka-Staudamms.

© REUTERS/ALEXANDER ERMOCHENKO

Ukrainer nach dem Staudamm-Bruch: „Wir werden sicher auch das Hochwasser überleben“

Die Menschen in der Überschwemmungsregion sind ohne Obdach, Strom, Ernte. Dennoch haben sie Hoffnung. Für Mensch und Natur bleibt die Lage dennoch desaströs und hochgefährlich.

Wasser. So weit das Auge reicht. Häuser, Felder, Plätze. In Novoselivka, einem Dorf in der Region Mykolajiw, ist alles überschwemmt. „Nur noch die Schornsteine der Häuser ragen hervor“, sagt die ukrainische Journalistin Alina Turyshyn dem Tagesspiegel.

Die Reporterin ist mit einem Rettungsteam unterwegs und dokumentiert eine Woche nach der Zerstörung die Folgen der Katastrophe in der Südukraine.

Am Dienstag vergangener Woche ist der Staudamm in der Region Cherson zerstört worden, höchstwahrscheinlich wurde er von Russland gesprengt. Die Fluten haben Experten zufolge eine Fläche von 620 Quadratkilometern völlig überschwemmt.

Das Wasser des Staudamms hat weite Teile der Region überflutet.

© dpa/AP/Libkos

Seitdem ist es fast unmöglich, Dörfer wie Novoselivka zu erreichen. Diejenigen, die versuchen zu entkommen, berichten von einem wiederholten Beschuss durch die russische Armee – und entsetzlichem Gestank. Die Fluten spülten Tausende tote Fische an die Ufer.

Näher am Welthunger

Vor allem die Landwirte kämen nun in Bedrängnis. Vor der Flut verbrächten sie viel Arbeit damit, die Felder von Landminen zu befreien und zu säen. Doch jetzt sei alles den Wassermassen zum Opfer gefallen.

Selbst bei der Evakuierung sind die Einwohner nicht sicher: Die russische Armee beschießt Zivilisten und Retter unentwegt. Dennoch wurden bis zum 15. Juni fast 4000 Menschen aus den Regionen Cherson und Mykolajiw evakuiert.

Die Zerstörung des Staudamms hat schwere Auswirkungen auf die Bewässerung im Süden der Ukraine. Die Wasserzufuhr zu den Feldern in Cherson und Saporischschja wurde auf beiden Seiten des betroffenen Flusses Dnipro unterbrochen.

„Die Region Cherson ist eine der landwirtschaftlich wichtigsten in der Ukraine. Diese Ausfälle bringen uns dem Welthunger deutlich näher“, erklärt die ukrainische Expertin für Energie- und Geopolitik Vira Konstantinova.

Satellitenaufnahmen zeigen den Kachowka-Damm im Süden der Ukraine vor (oben) und nach der Zerstörung (unten)

© dpa/Satellite image

Außerdem sei die Zerstörung ein Schlag Russlands gegen einen Nahrungsmittelkonkurrenten auf dem Weltmarkt. Moskau wolle große Getreideimporteure so dazu zwingen, die Produkte des Kremls, statt die von Kiew zu kaufen.

Auch in der Region Mykolajiw hat die Bevölkerung stark unter den Folgen der Staudamm-Explosion gelitten. Im Dorf Veselyj Kut in der Nähe zur Region Cherson leben einige Bewohner auf den bislang trockenen Feldern. Sie schlafen in ihren Autos und haben all ihr gerettetes Hab und Gut bei sich.

Mit dem nötigsten versorgt werden die Flutopfer mithilfe von kleinen Motorbooten. So werden Trinkwasser, Lebensmittel, Elektrizität und medizinische Versorgung bereitgestellt. Das Stromnetz funktioniert seit der Katastrophe nicht mehr.

Jetzt müssen sie wieder ganz von vorne anfangen.

Alina Turyshyn, ukrainische Journalistin

Des Weiteren ist die Region Dnipropetrowsk akut betroffen, wie die lokalen Behörden vermelden. Aktuell harren dort 300.000 Menschen ohne zentrale Wasserversorgung aus, wie die Zeitung „Kyiv Independent“ berichtete.

Die Wasserknappheit könnte sich in der gesamten Ukraine sogar auf eine Million Menschen ausweiten, heißt es weiter. Trotz der widrigen Umstände dient Dnipropetrowsk vielen Bewohnern überschwemmter Häuser als vorübergehender Zufluchtsort.

Vier Milliarden Euro Schäden

Der stellvertretende Direktor des ukrainischen Zentrums für Nahoststudien, Serhiy Danilov, befasst sich derzeit vor allem mit den humanitären Aspekten der Krise.

Darunter zählt die Beschlagnahmung von zivilen Booten durch Russland unmittelbar nach Beginn der Besatzung. Damit wurde den Menschen schon früh die Möglichkeit genommen, im Katastrophenfall das Gebiet zu verlassen.

Viele Länder arbeiten mit Russland im Nuklearbereich immer noch zusammen wie bisher.

Vira Konstantinova, ukrainische Expertin für Energie- und Geopolitik

„Außerdem starben viele Tiere, die von der Flut erfasst wurden, als niemand zu Hause war“, so Danilov.

Besonders betroffen sind zudem die Ökosysteme an der Nordküste des Schwarzen Meeres. Die Halbinsel Kinburn im Dnipro-Delta droht zu einer Insel zu schrumpfen.

Nach Schätzungen des ukrainischen Landwirtschaftsministeriums belaufen sich die geschätzten Schäden durch die Zerstörung des Staudamms bereits auf mehr als vier Milliarden Euro.

Wie man ein Fukushima-Szenario ausschließt

Besonders kritisch ist der Betrieb des Kernkraftwerks Saporischschja. Dieses wird mit Wasser aus dem Kachowkaer Stausee gekühlt, dessen Wasserstand nach der Sprengung des Staudamms rasch gesunken ist.

Bei Wassermangel in den Kühlbecken könnte es im schlimmsten Fall durch Überhitzung der Reaktoren zu einer Kernschmelze kommen. Vorerst ist die Kühlung jedoch durch Notfallreserven gesichert.

Aktuell befindet sich Rafael Grossi, der Leiter der Internationalen Atombehörde, auf einem Ukrainebesuch. Neben einem Termin im Atomkraftwerk wird er sich mit Präsident Wolodymyr Selenskyj treffen.

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Das staatliche ukrainische Energieunternehmen Energoatom hat angeordnet, auch den letzten Reaktor des Akws am 8. Juni komplett herunterzufahren, um die Temperatur des Reaktors und somit das Risiko eines Nuklearunfalls zu minimieren. Russland verweigert der Ukraine derweil Zugang zu Daten über die Strahlungsintensität im Kraftwerk.

„Es ist wichtig, auch die russische Atombehörde Rosatom zu sanktionieren. Viele Länder arbeiten mit Russland im Nuklearbereich immer noch zusammen wie gehabt“, so Energieexpertin Vira Konstantinova.

Russlands Terror gegen ukrainische Energie- und Nahrungsmittelversorg seien zudem klare Beweise dafür, dass sich Russland auch in Zukunft gegen die internationale Gemeinschaft stellen werde.

Bereits im Oktober 2022 erklärte Selenskyj, dass ein möglicher Terroranschlag auf den Kachowka-Damm „mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen gleichzusetzen“ wäre.

Laut Angaben des ukrainischen Militärgeheimdienstes begann Russland schon im April 2022 mit der Verminung von Schleusen und Stützelementen des Damms.

Der Wille der Einheimischen ist derweil ungebrochen. „Die Menschen sagen, dass sie nach dem schrecklichen Beschuss sicher auch das Hochwasser überleben werden“, schildert die Journalistin Turyshyn die Stimmung.

Nun würden sie darauf warten, dass das Wasser weit genug zurückgeht. Laut Turyshyn haben einige Anwohner bereits damit begonnen, ihre beschädigten Häuser wiederaufzubauen. „Aber jetzt müssen sie wieder ganz von vorne anfangen.“

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