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Kriminalität: Kindstötungen: Politiker sind entsetzt – und ratlos

Nirgendwo gibt es so viele Opfer wie in Brandenburg. Linke kritisieren die Sparmaßnahmen bei den Reihenuntersuchungen in den vergangenen Jahren.

Potsdam - Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) will Brandenburg zu einem der kinderfreundlichsten Länder der Bundesrepublik machen. Er hat seine Regierung auf die Maxime eingeschworen, dass „kein Kind zurückgelassen“ werden darf. Doch jetzt wird das Land von der neuesten Kriminalitätsstatistik eingeholt, wonach Kinder zwischen Prignitz und Lausitz doppelt so oft wie im Bundesdurchschnitt, aber auch häufiger als in allen Ost-Ländern, Opfer von Gewaltdelikten werden. Allein 13 waren es, wie berichtet, im Jahr 2006.

Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) und Gesundheitsministerin Dagmar Ziegler (SPD) sprachen sich gestern für eine gründliche Analyse der Ursachen und eine offene Debatte über Konsequenzen aus. „Die Sensibilität für den Schutz von Kindern muss größer werden“, sagte auch Landtagspräsident Gunter Fritsch (SPD). Eine Verankerung des Kinderschutzes im Grundgesetz, wie sie jetzt im Bund diskutiert werde, könnte helfen, den Jugendämtern größere Befugnisse zu geben. „Die Zahlen sind erschreckend. Da gibt es keinen Königsweg. Gesellschaft, Kommunen, Nachbarn – alle sind gefordert“, sagte Schönbohm.

Dass der Innenminister sich in dieser Frage zurückhaltender als sonst äußert, hat Gründe: Schönbohm hatte im Sommer 2005 nach der neunfachen Kindstötung von Brieskow-Finkenheerd eine Welle der Empörung in Ostdeutschland ausgelöst, weil er einen Zusammenhang mit der „Proletarisierung“ ländlicher Regionen in Ostdeutschland zu DDR-Zeiten sah. Diese missdeutbare Formulierung wiederholt er nicht mehr. Er spricht von „Entbürgerlichung“ – und weist auf die hohe Gewaltbereitschaft in einigen neuen Ländern hin, die sich auch in der neuen Statistik bestätigt.

Tatsächlich ist Brandenburg mit 13 getöteten Kindern 2006 ein Spitzenreiter selbst in Ostdeutschland. In Sachsen gab es sechs, in Thüringen zehn, in Mecklenburg-Vorpommern neun, in Sachsen-Anhalt fünf Kinder, die Opfer von Tötungsdelikten, einer tödlich endenden Vergewaltigung oder Verwahrlosung wurden.

„Man sollte das genauer unter die Lupe nehmen“, sagt auch Gesundheitsministerin Dagmar Ziegler (SPD). Aber man müsse aufpassen, „nicht ganze Regionen zu stigmatisieren.“ Ziegler ist zuversichtlich, dass sich der Ausbau des Frühwarnsystems gegen Kindesmissbrauch in den nächsten Jahren auszahlt. So würden mit dem neuen Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst die Reihenuntersuchungen verbindlicher. „Jetzt geht Kinderschutz vor Datenschutz“, sagt SPD-Fraktionschef Günter Baaske. Gleichzeitig solle das Netzwerk „Gesunde Kinder“ ausgebaut werden, bei dem ehrenamtliche Paten sich um Problemfamilien kümmern. Ziel sei, so Ziegler, dass solche Netzwerke – bislang sind es drei – 2009 im ganzen Land existieren.

Linkspartei-Oppositionschefin Kerstin Kaiser sieht das Grundproblem tiefer: Anspruch und Taten der Regierung klafften zu weit auseinander. Bei jedem Einzelfall werde „reflexartig diskutiert.“ Nötig sei aber zum Beispiel, die Jugendämter besser auszustatten. „Die Sozialarbeiter sind bis zum Stehkragen überlastet.“ Man weite jetzt Reihenuntersuchungen aus, die nach 1990 aus Spargründen zusammengestrichen worden seien. „Man hat das Netz durchlöchert, statt es dichter zu machen,“ kritisiert Kaiser.

Auch CDU-Innenexperte Sven Petke fordert ein stärkeres Engagement des Staates. Es gebe „bei Kriminalität und Gewalt ein Nord-Süd-Gefälle in Ostdeutschland, ja in Deutschland“, so Petke. Brandenburg habe eine Kriminalitätsrate wie die Großstadt München. Bei der Gewalt gegen Kinder sei zudem die Dunkelziffer mit Sicherheit hoch. „Nicht nur Kinderärzte und Ämter, auch Großeltern und Nachbarn müssen sensibler werden.“

Der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts in Hannover, Christian Pfeiffer, sagte dem Tagesspiegel, die Zahl der getöteten Kinder in Brandenburg sei „ungewöhnlich hoch“, dies sei ein „Alarmsignal“.

Th. Metzner, J. Wedemeyer

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