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Die Darstellerinnen von "Iphigenie".

© Jörg Carstensen/dpa

Volksbühne Tempelhof: "Iphigenie": Auf der Flucht vor dem Mythos

Regisseure Mohammad al Attar und Dramatiker Omar Abusaada zeigen in Tempelhof „Iphigenie“, mit Darstellerinnen aus Syrien. Es ist die erste Schauspielpremiere der Volksbühne in dieser Saison.

Sajeda Altaia ist verunsichert: „Kann ich eine Rolle spielen, in der nicht geküsst wird?“ Die junge Syrerin spricht gerade für den Part der Iphigenie vor, bekanntlich nicht gerade eine wild um sich knutschende Femme fatale. Aber weil Altaia Hijab trägt, muss sie sich im Casting die Frage gefallen lassen, ob das für sie keinen Widerspruch bedeute – Kunst und Kopftuch? Ob sie auch eine amouröse Szene performen würde? Und überhaupt, wie das wohl auf die Zuschauer wirken würde, die Iphigenie derart zu sehen? „Ich habe ja sowieso keinen Einfluss darauf, was die Leute denken“, gibt die Schauspielerin zu Recht zurück.

Schließlich hat auch Sajeda Altaia noch eine Frage, an Reham Alkassar, die hier das Casting leitet und das Vorsprechen mit der Kamera filmt. Ob es bei diesem Projekt nur darum ginge, auf der antiken Folie die eigenen Fluchtgeschichten auszubreiten? Dessen sei sie nämlich überdrüssig. Erst kürzlich sollte sie einer deutschen Journalistin wieder das Elend und die Gefahr in möglichst düsteren Farben ausmalen, das Schlauchboot und die Todesangst. Nur um reißerische Schlagzeilen zu produzieren. Mit diesem Blick muss gebrochen werden.

Nach "Troerinnen" und "Antigone" jetzt "Iphigenie"

Genau das war wohl die Intention des Dramatikers Mohammad al Attar und des Regisseurs Omar Abusaada, die im Auftrag der Volksbühne im Hangar 5 in Tempelhof den finalen Teil ihrer Antiken-Trilogie zeigen. Nach Adaptionen der „Troerinnen“ und der „Antigone“, die in Jordanien und im Libanon zur Uraufführung kamen, widmen sich die syrischen Theatermacher nun der „Iphigenie“ des Euripides. Der Tragödie der Tochter des Agamemnon also, die bereit ist, ihr Leben in den Wind zu schießen, damit der Vater die Götter besänftigen und nach Troja segeln kann, um Krieg zu führen.

In der Version, die sich al Attar und Abusaada ausgedacht haben, sprechen neun nichtprofessionelle Darstellerinnen aus Syrien für die Rolle vor und erklären, was der Mythos mit ihrem Leben zu tun hat, weswegen sie die ideale Besetzung wären, warum sie überhaupt Theater spielen wollen. „Iphigenie ist mir ähnlich, für mich ist Familie alles“, lautet eine Antwort, „für mich ist Iphigenie eine Märtyrerin“, sagt eine andere. „Sich opfern bedeutet nicht immer Schwäche“, findet die 23-jährige Layla Shandi.

Die Frauen, die überwiegend keine Theaterausbildung haben, aber alle einen künstlerischen Erfahrungshorizont besitzen, überblenden die Vorlage also mit der eigenen Biografie. Erzählen etwa, wie sie dem Vater zuliebe das Schauspielstudium in Damaskus abgebrochen haben. Wie sie einer Schulfreundin mit Gesang das Fenster zur verbotenen Welt der Musik öffneten. Berichten, welche Depressionen sie nach der Ankunft in Deutschland überfielen. Oder wie es dazu kam, dass sie sich in der Flüchtlingsunterkunft mit einem Klappmesser bewaffnen mussten. Nur gelegentlich werden diese Schicksalsberichte humoristisch gebrochen, so wenn Nour Bou Ghawi eine Frau gibt, die sich zum wiederholten Mal zum Casting verspätet hat und überdies glaubt, es ginge um die Rolle der „Antigone“.

Wieder und wieder die gleichen Fragen

Die Darstellerinnen machen ihre Sache toll. Die Probleme liegen auf Seiten von al Attar und Abusaada. Schon rein formal hat sich die Casting-Situation – vorgetragen auf einer flachen weißen Holzbühne von Bissan Al-Carif, die in den hallenden Weiten des Hangars 5 wohl absichtsvoll verloren wirkt – spätestens nach dem dritten Auftritt erschöpft. Wieder und wieder zoomt die Kamera auf große Augen, projiziert auf eine von der Decke hängende riesige Leinwand. Wieder und wieder werden die gleichen Fragen gestellt („Hast du einen Monolog vorbereitet?“). Das mag ja realistisches Casting sein. Gewinnt aber keinen dokumentarischen Drive. Der Zuschauer ist aufgefordert, die Erzählungen aufgrund ihrer wie auch immer gearteten Authentizität mit Relevanz zu laden.

Was dabei entgegen der Behauptung eben nicht stattfindet, und das wiegt am Schwersten, ist der Bruch mit der Reduktion der Frauen auf Herkunft und Fluchtgeschichte. Sie haben teils schöne, auch komische Antworten parat auf die Frage, weshalb es sie zum Theater ziehe („Da ist so eine mysteriöse Beziehung zwischen mir und der Bühne“). Aber sie sprechen nun mal für die klassischste aller Opferrollen vor. Am Ende darf eine der Frauen sagen, sie glaube nicht an derlei Selbstaufgabe. Das ist das Höchstmaß an widerständiger Reibung mit einer durchaus fragwürdigen antiken Vorlage.

Nächste Vorstellungen: 2./3. Oktober, 20 Uhr, Tempelhof Hangar 5

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