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© Tate Photography

Ausstellung in London: Lasst uns den Mond ermorden!

Ein Rennwagen sei „schöner als die Nike von Samothrake“, verkündete der Futurist Marinetti in seinem Manifest. Ganz in diesem Sinne feiert London den Futurismus mit einer großen Ausstellung.

Wer in der Londoner Tate Modern, einem umgebauten Kraftwerk, auf der Rolltreppe zur Ausstellungshalle hochfährt, der gleitet derzeit auf ein riesenhaft aufgeblasenes Schwarz-Weiß-Foto zu. Es zeigt fünf Herren in eleganten Mänteln, die Zigaretten und Spazierstöcke halten und ihre Augen verwegen zusammenkneifen. Daneben prangt ein Schriftzug: Futurismus. Der Mann in der Bildmitte ist unverkennbar der Anführer, er überragt seine Mitstreiter sichtlich.

Filippo Tommaso Marinetti hat seinen Bowlerhut in die Stirn gezogen, die Spitzen seines Menjoubärtchens biegen sich optimistisch nach oben. Vor hundert Jahren, im Februar 1909, veröffentlichte der Mailänder Jurist und Schriftsteller auf der Titelseite der Pariser Tageszeitung „Le Figaro“ sein „futuristisches Manifest“. Ein Rennwagen sei „schöner als die Nike von Samothrake“, schrieb er und feierte die Ankunft einer neuen Zeit: „Besingen werden wir die breitbrüstigen Lokomotiven, die auf den Schienen wie riesige, mit Rohren gezäumte Stahlrosse einherstampfen, und den gleitenden Flug der Flugzeuge, deren Propeller wie eine Fahne im Winde knattert.“

„Schönheit gibt es nur noch im Kampf“

Der Text ist so pathetisch wie poetisch, er zieht einen Schlussstrich und singt ein Hohelied auf die anbrechende Moderne. Mit seinem Furor löste er eine künstlerische Revolution aus. „Schönheit gibt es nur noch im Kampf“, heißt es im Geiste Nietzsches. „Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein.“ Dass man die Relikte dieser Revolution – Flugblätter, Streitschriften und Grafiken, vor allem aber Gemälde und Skulpturen von erlesener Qualität – jetzt ausgerechnet in einem umgewandelten Denkmal des industriellen Zeitalters besichtigen kann, hätte Marinetti vermutlich gefallen. Für ihn war Kunst ein Energieträger.

Die Futuristen wollten Tabula rasa machen, sahen sich dabei aber durchaus noch im Sinne des 19. Jahrhunderts als Originalgenies. „Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und jede Feigheit kämpfen“, forderte Marinetti. Gegen die Aufnahme futuristischer Kunstwerke in die Museen hatte er allerdings nichts einzuwenden. Im Februar 1912 zeigte die Pariser Galerie Bernheim-Jeune eine spektakuläre Ausstellung mit Bildern von Umberto Boccioni, Carlo Carrà, Luigi Russolo und Gino Severini, mit der den Futuristen der endgültige Durchbruch gelang. Neonbuchstaben an der Hausfassade – damals ultramodern – warben für die Schau, die Galerie war ständig überfüllt, Kritiker befanden, die italienischen Avantgardisten seien zwar nicht mehr so hart und kompromisslos wie noch ein Jahr zuvor, dafür aber nun bereits „klassisch“. Der Dichter Apollinaire war beeindruckt vom selbstbewussten Auftreten der Künstler, er lobte, dass Severini offene Schuhe und zwei verschiedenfarbige Socken trug.

Fortschrittlich waren die Futuristen vor allem als Werbestrategen

Paris war 1912 die Welthauptstadt der Kunst, dort konnten die Futuristen maximale Aufmerksamkeit erreichen. Boccioni sprach von einem „Schlachtfeld“, für das die Gruppe ihre „Kanonen laden“ müsse. Solche verbalen Kraftmeiereien waren ein geschicktes Instrument der Selbststilisierung. Fortschrittlich waren die Futuristen vor allem als Werbestrategen. Ihr Zugang zu den Massenmedien – Marinetti hatte bis zu seinem Umzug nach Mailand in Paris für Zeitungen gearbeitet – und „ein völlig neues Gespür für Provokationen“ machten sie zur „ersten Avantgardebewegung des 20. Jahrhunderts“, konstatiert der Kunsthistoriker Didier Ottinger im Ausstellungskatalog.

Die Pariser Ausstellung ist der dramaturgische Dreh- und Angelpunkt der Londoner Retrospektive. Die Bilder und Skulpturen der Futuristen – einige von ihnen waren 1912 bei Bernheim-Jeune dabei – stehen im Mittelpunkt, aber zu sehen sind auch Werke anderer Avantgardegruppen, die von ihnen beeinflusst waren: der französischen Kubisten, russischen Kubofuturisten und britischen Vorticisten. Es galt, Abschied vom eindeutigen Betrachterstandpunkt zu nehmen, darin waren sich die international gut vernetzten Künstler einig, und die „gedankenschwere Unbeweglichkeit“ (Marinetti) durch etwas radikal anderes zu ersetzen.

Der Verbalradikalismus der Futuristen stößt auch auf Widerstand

Die Futuristen zerlegen die Wirklichkeit in ihre Bestandteile und setzen sie neu zusammen. „Was die Tram mir erzählt hat“, so lyrisch benennt Carrà eine nächtliche Straßenszene am Mailänder Bahnhof, in der Straßenbahn, Lichter und Passanten zu einem Wirbel aus Winkeln und Rechtecken zerfallen. Boccioni fächert die „Kräfte der Straße“ – vorbeieilende Menschen und Wagen, elektrische Laternen – zu eleganten Kristallen auf. Die Straße und die Nacht werden, Marinettis Gebot „Lasst uns den Mond ermorden“ erfüllend, zu Lieblingssujets der Mailänder Maler. Und in Boccionis Bronzefigur „Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum“, dem wohl berühmtesten futuristischen Kunstwerk überhaupt, sind die Bewegungsabläufe eines Marschierenden so souverän zusammengeschaltet, dass der Weltgeist persönlich draufloszustapfen scheint.

„Das Bild muss eine Synthese dessen sein, was man erinnert und was man sieht“, erklären die Futuristen. An die malerische Konsequenz ihrer Pariser Kollegen reichen sie dennoch nicht heran. Picasso treibt in seinem Porträt des Galeristen Daniel-Henry Kahnweiler die Darstellung eines Gesichts zur beinahe totalen Abstraktion. Duchamp hält die Dynamik einer die Treppe hinabsteigenden Frau mit nahezu wissenschaftlicher Präzision fest. Der Verbalradikalismus der Futuristen stößt auch auf Widerstand. Die französische Dichterin Valentine de Saint-Point veröffentlicht das Gegenmanifest „Die futuristische Frau“. In London, wo die Vorticisten die Zeitschrift „Blast“ herausbringen, spricht man verächtlich vom „Marinettismus“ als Synonym für Geschwätzigkeit.

Die Londoner Ausstellung endet mit Italiens Eintritt in den Ersten Weltkrieg 1915. Marinetti feiert in seinem Manifest den Krieg als „einzige Hygiene der Welt“. Aber als das große Sterben vorbei ist, hat sich der Futurismus künstlerisch erledigt.

- Tate Modern London, bis 29. September

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