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Bücherverbrennungen: Sog der Erinnerungen

Eine Lebensaufgabe: Jürgen Serke hat für die „verbrannten Dichter“ ein Museum gegründet. Ab 30. März ist die Ausstellung im Kunstmuseum Baden Solingen zu sehen.

Zum Beispiel Hugo Sonnenschein. Sohn eines jüdischen Bauern, kam er 1889 im mährischen Goya zur Welt, verließ mit 18 sein Elternhaus, zog vagabundierend durch Europa und verursachte 1910 mit seinen „Närrischen Büchel“ einen Skandal. Er war Mitbegründer der tschechoslowakischen KP, besuchte Stalin in Moskau und freundete sich mit Leo Trotzki an. Nachdem er aus Wien ausgewiesen worden war, landete er in Prag, wo er nach der deutschen Okkupation 1940 von der Gestapo vernommen, inhaftiert, freigelassen und mit seiner Frau nach Auschwitz deportiert wurde. Seine Frau wurde ermordet, er überlebte, kehrte ins befreite Prag zurück, wurde noch im Mai 1945 verhaftet und 1947 wegen Kollaboration mit den Deutschen zu 20 Jahren Haft verurteilt. Hugo Sonnenschein starb 1953 64-jährig im Zuchthaus in Mirov.

Oder Karl Gerold. 1906 als uneheliches Kind geboren, er wuchs beim Großvater auf, der ihm den Weg in die Sozialdemokratie wies. Nach einer Lehre in einer Spielzeugfabrik arbeitete er als Mechaniker. Schon 1933 wurde er festgenommen, sprang auf dem Weg ins KZ aus dem fahrenden Zug und entkam über den Rhein schwimmend nach Basel. Im Schweizer Exil erschienen seine ersten Gedichte. Gerold dichtete und schleuste Flugblätter gegen das NS-Regime nach Deutschland. 1943 wurde er in der Schweiz verhaftet und im Januar 1945 wegen nachrichtendienstlicher Tätigkeiten für die Alliierten zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr verurteilt. 1946 machte die US-Besatzungsmacht ihn zum Verleger, Herausgeber und Chefredakteur der neugegründeten „Frankfurter Rundschau“. Karl Gerold starb 1973 in Frankfurt.

Oder Peter Kien: Der Freund von Peter Weiss kam 1940 ins KZ Theresienstadt, wo er in der Technischen Abteilung der „Jüdischen Selbstverwaltung“ als Zeichner eingesetzt wurde. Im Lager malte und schrieb er, unter anderem das Libretto zu der Oper „Der Kaiser von Atlantis oder Der Tod dankt ab“. Als er mit 24 in Auschwitz starb, hinterließ er Hunderte Gemälde, Zeichnungen, Karikaturen.

Wer vor den Schautafeln der Ausstellung „Himmel und Hölle zwischen 1918 und 1989. Die verbrannten Dichter“ steht, die in Berlin konzipiert und vorbereitet und am 30. März im Kunstmuseum Solingen eröffnet wird, empfindet einen seltsamen Sog. Die kurzen Schlaglichter auf die Biografien ermordeter oder nur knapp mit dem Leben davon gekommener Dichter lenken die Aufmerksamkeit auch auf all die, die im Schatten blieben. Man möchte mehr lesen und ist dankbar über jeden, der aus dem Dunkel des Vergessens auftaucht, dessen Leben und Werk dokumentiert, festgehalten, verbürgt ist.

Jürgen Serke kennt diesen Sog. Seit Jahrzehnten reist er durch Europa, nach Israel und Amerika, recherchiert Biografien, sammelt Material, webt an einem großen Netz der Sichtbarmachung. 1976 erschien eine Serie von ihm im „Stern“ mit Porträts von Schriftstellern, deren Werke unter den Nazis verboten worden, die ins Exil getrieben oder getötet worden waren. Ein Jahr später kam sein Buch „Die verbrannten Dichter“ heraus, mit dem Serke nicht nur einen Begriff prägte, sondern auch eine Welle von Publikationen zu dem Thema auslöste.

Mit seinen Recherchen war Serke gerade noch rechtzeitig gekommen – bevor die letzten Überlebenden starben. Als er den Dichter und Reiseschriftsteller Armin T. Wegner aufsuchte, der nach dem Krieg in Italien ein ärmliches Leben fristete, kam Wegner auf ihn und seinen Fotografen Wilfried Bauer zu, umarmte sie und sagte: „Ich war der einsamste Mensch. Ich habe noch so viel zu sagen. Bleibt doch. Warum seid ihr denn nicht früher gekommen?“

Das Thema des unter Diktaturen leidenden Autors ließ Jürgen Serke nicht los, auch als er Mitte der achtziger Jahre den „Stern“ verließ und als freier Journalist weiterarbeitete. Es ist seine Passion geblieben: unbekannten Aufmerksamkeit schenken, Leidens- und Widerstandsgeschichten rekonstruieren. 1982 veröffentlichte er „Das neue Exil“ über Dichter, die aus der DDR vertrieben wurden, fünf Jahr später „Böhmische Dörfer“ über vergessene deutschsprachige Autoren aus der ersten Tschechischen Republik jenseits von Werfel, Rilke und Kafka. Auf 30 000 Bände ist Serkes Sammlung angewachsen, aus der nun Hunderte Handschriften, Briefe, Bücher in Solingen vorgestellt und mit der bestehenden Sammlung Schneider, die Gemälde und Grafiken verfolgter Künstler zwischen 1933 und 1945 umfasst, zu einem in Deutschland einzigartigen „Museum der verfolgten Künste“ zusammengeführt werden.

„Ich hoffe, dass ich mit der Eröffnung der Ausstellung diese Geschichte auch etwas abschließen kann“, sagt Serke, nachdem er mit seinem Kurator Jürgen Kaumkötter beim Rundgang die Funktionstüchtigkeit der Museumsmonitore geprüft hat. Wer sich mit Serke unterhält, kann sich ein Ende dieses Geschichte freilich kaum vorstellen. Claire Goll, Wolfgang Borchert, Ernst Toller. Ein Name gibt den nächsten, Lebensläufe werden zusammengefasst, begeistert werden Motiv- und Biografieverbindungen gezogen.

Im Zentrum der Ausstellung wird ein Briefwechsel von Wolfgang Borchert mit seinem Freund Werner Lüning stehen, der belegt, dass Borchert sich mit „Draußen vor der Tür“ auf Ernst Tollers Kriegsheimkehrerdrama „Hinkemann“ aus dem Jahr 1922 bezieht. Jürgen Fuchs wiederum, der wegen kritischer Meinungsäußerungen schon früh mit der DDR-Obrigkeit in Konflikt geriet, wird unter anderem mit dem Borchert-Satz „Wir werden nie mehr antreten auf einen Pfiff hin“ zitiert – womit zumindest literaturhistorisch die Kontinuität von Toller über Borchert bis zum Widerstand der Bürgerrechtler hergestellt wäre.

Die Ausstellung orientiert sich an dem, was Serke gesammelt hat: Deshalb werden neben den verfemten oder getöteten Dichtern aus dem Dritten Reich wie Else Lasker-Schüler oder Peter Kien – von dem mehr als 100 Bilder gezeigt werden – auch viele DDR-Autoren wie Inge Müller oder Alfred Matusche vorgestellt, der darüber schrieb, wie NS-Parteigänger in Führungspositionen des SED-Staates einrückten.

Spektakulär ist auch, was als Begleitausstellung entstand. „Die sich die Freiheit nehmen“ zeigt Dichterporträts von Milan Kundera über Rose Ausländer bis zu Joseph Brodsky der Pressefotografen Christian Irrgang, Robert Lebeck, Stefan Moses und Wilfried Bauer. Es ist die erste Werkschau von Wilfried Bauer, der Serke bei vielen Recherchen begleitet hat und sich im Dezember 2005 das Leben nahm, nachdem er seine Wohnung in Brand gesetzt hatte, bei dem der größte Teil seines Archivs den Flammen zum Opfer fiel.

Damals, in den siebziger und achtziger Jahren, müssen im Magazin-Journalismus paradiesische Zeiten geherrscht haben. Nachdem die Chefredaktion des „Stern“ Serke ein halbes Jahr für die Porträts um die halbe Welt hatte reisen lassen, schüttelten die Herren unzufrieden den Kopf, als er ihnen schließlich die fertigen Texte über Walter Mehring oder Else Lasker- Schüler vorlegte. „Zu schwarz, zu leidvoll“, hieß es. Außerdem war September. Jetzt käme der Herbst, da könne man so etwas Hoffnungsloses nicht drucken.

Dass die Serie „Die verbrannten Dichter“ schließlich doch erschien, lag an einem für die Optik zuständigen Redakteur, der die Geschichten ins Blatt hob, als die anderen im Urlaub waren. Waschkörbeweise kamen Leserzuschriften. Seitdem ist das Buch auf dem Markt, immer noch bieten Verwandte von Exil-Autoren Nachlässe an.

Ab 30. März im Kunstmuseum Baden Solingen, Infos: www.museum-baden.de

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