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© Illustration: Oesterle/Carlsen

Buchmesse: Sieh an, es ist ein Roman!

Wie eine populäre Kunst in die Regionen der Literatur vordringt

Seit Jahren strömen Tausende von Comic-Interessierten auf die Frühjahrsbuchmesse. Ihr wichtigster Anlaufpunkt ist der Bereich „Comics in Leipzig“, der ihnen nun zum neunten Mal ein eigenes Domizil in Halle 2 bietet. Doch die Veranstaltung kommt inzwischen einer Mogelpackung gleich, auf der besser das Etikett „Mangas in Leipzig“ prangen sollte, so dominant sind die japanischen Comics. Nun aber scheint sich eine Wende abzuzeichnen. Kleinere Comic-Aussteller wie die Berliner Verlage Reprodukt und Avant haben die Halle mit den Mangas verlassen und suchen Zuflucht in der Nachbarschaft der Belletristik. Sogar der Großverlag Carlsen, der früher die Manga-Ausrichtung der Messe forciert hat, schmückt sich in diesem Jahr bei der Buchmesse mit gleich mehreren Künstlern, die ganz dem klassischen Comic zuzurechnen sind.

Das gilt vor allem für den Münchner Uli Oesterle, der in Leipzig seinen lang erwarteten Comic-Roman „Hector Umbra“ vorlegt, an dem er rund sieben Jahre gearbeitet hat. Oesterle entfaltet mit kraftvoll markantem Zeichenstrich eine düstere Großstadtszenerie, in der er seiner Heimatstadt München (Schatten-)Seiten abgewinnt, die man so von deutschen Comic-Künstlern allenfalls aus Hamburg und Berlin kennt. Der Leser folgt dem an Raymond Chandlers private eye Philip Marlowe erinnernden Hector Umbra auf seiner Suche nach einem verschwundenen Kumpel in die Betonburgen des Olympiazentrums, die U-Bahn-Schächte und Katakomben der bayerischen Metropole.

Der stringent erzählten Geschichte ist anzumerken, dass ihr trotz der immer wieder stockenden Entstehung ein fest gefügtes Szenario zugrunde liegt. Es ist deshalb ein Glücksfall, dass „Hector Umbra“ jetzt als voluminöser Gesamtband mit mehr als 200 Seiten aufgelegt wird, nachdem der erste Teil der Geschichte bereits 2003 als Startband einer Albenreihe erschien.

Alles schien für alle Zeiten vorgegeben

Auch „Hector Umbra“ war also zunächst in dem für Comics typischen seriellen Korsett gefangen. Fast alle Werke der gut 100-jährigen Comic-Historie sind Serien – seien es Zeitungsstrips wie „Prinz Eisenherz“ und die „Peanuts“, Kioskhefte wie „SpiderMan“ und „Micky Maus“ oder Albenreihen wie „Asterix“ und „Tim und Struppi“. Bei allen war von Anfang an klar, dass sie im Erfolgsfall in unendlicher Fortsetzung erscheinen würden – oft über den Tod ihrer Schöpfer hinaus.

Auch formal gab es wenig Spielraum: der immer gleiche Platz für den Tagesstreifen auf der Zeitungsseite, die exakt an der Größe von Druckbögen ausgerichteten Umfänge der immer wieder 32-seitigen Hefte und 48 Seiten starken Alben – alles schien für alle Zeiten vorgegeben zu sein. Doch bereits in den 1960er Jahren entstanden erste Werke, die sich abseits der Vorgaben an der literarischen Gattung des Romans orientierten. Folgerichtig setzte sich für diese Comics die Will Eisner zugeschriebene Bezeichnung der „Graphic Novel“ durch.

Der Übergang von der Serie zur Graphic Novel lässt sich besonders gut an dem Klassiker „Watchmen“ nachzeichnen, dessen Verfilmung gerade in den Kinos läuft und der nun auch in einer Neuedition herauskommt. Ein mehrfacher Glücksfall: Amerikanische Verlage begannen in den Achtzigern mit neuen Veröffentlichungsformen zu experimentieren. Sie wollten sich noch nicht ganz vom Serienprinzip verabschieden, etablierten aber begrenzte Reihen, die etwa mit zwölf Ausgaben abgeschlossen wurden.

Für Einmischungsversuche der amerikanischen Redakteure kaum erreichbar

Die „Watchmen“-Künstler Alan Moore, Dave Gibbons und John Higgins konnten so bereits das Konzept der Graphic Novel umsetzen, nur dass deren Kapitel zunächst einzeln erschienen. Wichtig war auch, dass alle drei Künstler in England lebten und so – noch ohne Fax- und Internet-Verbindung – für die Einmischungsversuche der amerikanischen Redakteure kaum erreichbar waren. Sie brauchten auch nicht auf eingeführte Charaktere zurückzugreifen, sondern durften eigene Protagonisten formen, deren Schicksal ganz in ihren Händen lag. Wie erst diese Unabhängigkeit ein Meisterwerk ermöglichte, das ist im Anhang der neuen „Absolute Watchmen“-Edition sowie im Band „Watching the Watchmen“ nachgezeichnet. „Watchmen“ wurde auch hierzulande schnell veröffentlicht – wenngleich die Leser etliche Jahre warten mussten, bis ein Gesamtband die Geschichte als vollständige Graphic Novel verfügbar machte. Viele andere bedeutende Werke fanden aber zunächst nicht den Weg in die Programme deutscher Verlage.

Das galt auch für zwei Graphic Novels mit Klassikerstatus, die jetzt – mit zehn Jahren Verspätung – auf Deutsch herauskommen. In „Der Jude von New York“ greift der amerikanische Comic-Künstler Ben Katchor Elemente der abenteuerlichen Lebensgeschichte des sephardischen Juden Mordecai Manuel Noah auf, der im Amerika des 19. Jahrhunderts von der Idee besessen war, eine eigene Heimstatt für die Juden in Nordamerika zu etablieren. Mit schwungvollem Strich entwirft Katchor ein schillerndes Panoptikum seiner Heimatstadt New York.

Ebenfalls in eine bewegte historische Periode blendet der Franzose Blutch alias Christian Hincker in der Graphic Novel „Blotch – Der König von Paris“ zurück. Den Hintergrund bilden die 30er Jahre unter der von Léon Blum geführten Volksfront-Regierung. Blutch erzählt in autobiografisch geprägten Episoden von der Künstlerkarriere eines Zeichners, dessen Name nicht ohne Grund seinem eigenen ähnelt. Selbst das Magazin, in dem die Geschichten ursprünglich veröffentlicht wurden, nämlich „Fluide Glacial“, verfrachtete er samt kaum verschlüsselten Redaktionskollegen kurzerhand sechzig Jahre in die Vergangenheit zurück. Auf diese Weise schuf Blotch einen der faszinierendsten Comics der letzten Jahre.

Weltweite Interaktion, gegenseitige Inspiration

Selbst im japanischen Manga finden sich zunehmend Werke, die den Graphic Novels zugeordnet werden können. Ein Vorreiter ist Jiro Taniguchi, der sich offen dazu bekennt, vom franko-belgischen Comic beeinflusst zu sein. Er versteht seine langsamen Mangas ausdrücklich als Antwort auf die Hektik des Lebens. Was nicht ausschließt, dass er sich auch fantastischer Elemente bedient. In seiner neuen Graphic Novel „Bis in den Himmel“ stoßen ein junger Motocross-Champion und ein Familienvater bei einem Unfall zusammen. Als der Ältere im Krankenhaus stirbt, scheinen dessen Erinnerungen auf den gerade aus dem Koma erwachenden jungen Mann überzugehen. Und der Leser kann verfolgen, wie sich dieses andere Bewusstsein in einem fremden Körper und Leben zurechtzufinden beginnt.

An den von Taniguchi und seinen Mitarbeitern umgesetzten Mangas begeistert auch die detaillierte Ausarbeitung der Dekors und Hintergründe. Das gilt besonders für den Band „Der spazierende Mann“, der ebenfalls zur Leipziger Buchmesse vorgelegt wird. In den kurzen Episoden um einen eher unscheinbaren Mann und seine Spaziergänge weiß Taniguchi den Blick meisterhaft auf vermeintliche Nebensächlichkeiten zu lenken. Es sind nicht zuletzt diese weltweiten Interaktionen und gegenseitigen Inspirationen, die die Graphic Novels so spannend machen. Da greift ein Manga-Künstler Elemente der französischen bandes dessinées auf, da revolutionieren drei Briten den amerikanischen Superhelden-Comic, und da verlegt ein deutscher Zeichner eine Hardboiled-Szenerie mit Mystery-Anklängen nach München.

In den Graphic Novels fließen die unterschiedlichsten globalen Comic-Kulturen in einer Vielfalt zusammen, die bei den in Tradition erstarrten Serien-Comics unvorstellbar wäre. Dass auch Deutschland immer mehr an dieser Entwicklung teilhat, machen die Neuerscheinungen zur Buchmesse augenfällig. Der interessierte Leser muss etwas auf die Suche gehen, bis er die entsprechenden Graphic Novels in den Händen hält. Leipzig wird ihn für diese Mühe reich belohnen.

Uli Oesterle: Hector Umbra. Carlsen Verlag, Hamburg 2009. 208 Seiten, 24,90 €.

Alan Moore, Dave Gibbons, John Higgins: Absolute Watchmen. Panini Verlag, Nettetal-Kaldenkirchen 2009. 468 Seiten, 75 € (Softcover ohne Anhänge 29,95 €)

Dave Gibbons, Chip Kidd, Mike Essl: Watching the Watchmen. Die Entstehung einer Graphic Novel. Panini Verlag, NettetalKaldenkirchen 2009. 284 Seiten, 34,90 €.

Ben Katchor: Der Jude von New York. Avant-Verlag, Berlin 2009. 120 Seiten, 19, 95 €.

Blutch: Blotch. Der König von Paris, Avant-Verlag, Berlin 2009. 104 Seiten, 17, 95 €.

Jiro Taniguchi: Bis in den Himmel. Schreiber & Leser/Shodoku, München 2009. 304 Seiten, 16,9 5 €.
Der spazierende Mann. Carlsen Verlag, Hamburg 2009, 168 Seiten, 14 €.

(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 11. März 2009)

Martin Jurgeit

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