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Eine Szene aus „Das große Los“ von Joris Mertens.

© Splitter-Verlag

Comic-Drama „Das große Los“: Glückssucher im Dauerregen

Der Belgier Joris Mertens verknüpft in seiner Graphic Novel „Das große Los“ kunstvoll Thriller-Elemente mit einer tiefgründigen Personenstudie.

Der Kerl scheint ein armer Tropf zu sein. Immer unterwegs, bei Wind und Wetter. Unterbezahlt und dauergenervt von seinem neuen, jüngeren, völlig unfähigen Kollegen. François ist tagein, tagaus als Auslieferer der Wäscherei „Bianca“ mit dem Lieferwagen auf Achse, und dafür bekannt, seine Arbeit pünktlich und stets mit einem freundlichen Lächeln zu erledigen. Ob sein Chef, Kollegen, Kundinnen – alle schätzen ihn.

Nach Feierabend trifft François seine Kumpels im Bistro „Monico“. Und er hat einen Schwarm: die hübsche Maryvonne, alleinerziehende Mutter und Betreiberin eines Kiosks, bei der er selbst bei strömendem Regen immer vorbeischaut. Insgeheim hofft François darauf, dass eines Tages sein Lottoschein – seit Jahren dieselbe Zahlenreihe – gewinnt, und er mit dem Erlös Maryvonne und ihrer Tochter Romy eine bessere Zukunft bieten kann.

Fortuna im Blick: Eine Szene aus „Das große Los“.
Fortuna im Blick: Eine Szene aus „Das große Los“.

© Splitter-Verlag

Der 1968 geborene belgische Zeichner Joris Mertens hat unter anderem als Set Designer und Storyboard Artist beim Film gearbeitet. In seiner neuen, bisher zweiten Graphic Novel „Das große Los“, die nun im Bielefelder Splitter-Verlag erschienen ist (Übersetzung aus dem Französischen: Axel Rothkamm, 144 S., 35 €), erzählt er von einem ganz normalen Tag im Leben eines einfachen Mannes, der die besten Tage schon hinter sich hat, jedoch nie aufgibt oder resigniert.

Der Newcomer Mertens beweist, dass nicht zwingend eine spektakuläre Handlung vonnöten ist, um Leserinnen und Leser in den Bann zu ziehen. Kürzlich wurde das Buch von 30 deutschsprachigen Comic-Kritikerinnen und -Kritikern unter die zehn besten Neuerscheinungen des Quartals gewählt.

Geschickt baut Mertens seine Geschichte auf, unterteilt sie in Kapitel, die mit Namen überschrieben sind – „Maryvonne“, „Bianca“ bis hin zu „Fortuna“, dem Höhepunkt der Erzählung.

Zunächst setzt der Zeichner ganz auf Stimmungen, beschreibt den harten Alltag seines Protagonisten, inszeniert diesen meist immer wieder pudelnass im strömenden Regen, den er zeichnerisch besonders eindrucksvoll in Szene setzen kann, zwischen Naturalismus und impressionistischem Lichtspiel.

Inspiriert von Paris und Brüssel: Die namenlose Stadt, in der die Geschichte spielt, hat Mertens in vielen eindrucksvollen Bildern zwischen Naturalismus und Impressionismus festgehalten.
Inspiriert von Paris und Brüssel: Die namenlose Stadt, in der die Geschichte spielt, hat Mertens in vielen eindrucksvollen Bildern zwischen Naturalismus und Impressionismus festgehalten.

© Splitter-Verlag

Die namenlose französischsprachige Großstadt, in der die Geschichte spielt, bekommt die zweite Hauptrolle zugewiesen. Sie erinnert entfernt an Paris, vielleicht auch an Brüssel, die vielen architektonischen Details lassen jedenfalls reale Vorbilder vermuten, die Mertens in ein neues, allgemeingültiges Stadtensemble verwandelt hat.

Anklänge an „Taxi Driver“

Anspielungen deuten darauf hin, dass die Geschichte Mitte, Ende der Siebziger Jahre angesiedelt ist, da es noch keine Handys oder Smartphones gibt, die auftretenden Automodelle alle schon älter sind und François am Abend den „Vorentscheid des Songfestivals“ im Fernsehen des Monico-Bistros sehen möchte.

Das Filmplakat zu Martin Scorseses Film „Taxi Driver“ und die anschließende Sequenz, in der François eine Kinovorstellung besucht, deuten auf das Jahr 1976 hin, in dessen Herbst die Graphic Novel spielen könnte.

Joris Mertens: „Das große Los“. Übersetzung aus dem Französischen: Axel Rothkamm. Splitter Verlag, 144 Seiten, Hardcover, 35 €
Joris Mertens: „Das große Los“. Übersetzung aus dem Französischen: Axel Rothkamm. Splitter Verlag, 144 Seiten, Hardcover, 35 €

© Splitter

Auch die Farbpalette Mertens, zwischen dunklem Graublau und Schwarz, spiegelnd-nassen Straßen und immer wieder ins Auge springenden tiefroten Tönen ist ein Hinweis darauf, dass Scorseses Film ein nicht nur visuelles Vorbild für den Zeichner darstellte. Ähnlich wie Travis Bickle, dem Taxifahrer, der im Zentrum des Films steht, ist François ein vergleichbarer Mann aus dem Volk, dem der Zeichner ein dichtes Psychogramm widmet.

Spätestens nach der Hälfte des Bandes glaubt man, diesen Mann sehr gut zu kennen. Und auch die Genremischung von „Das große Los“ erinnert an „Taxi Driver“: Psychostudie, verhaltene Liebesgeschichte, Großstadtporträt, ein Hauch von Tragikomödie und sich langsam steigernde Spannungselemente halten sich die Waage.

Im letzten Drittel der Graphic Novel, als François bei einer seiner Auslieferungen eine schockierende Entdeckung macht, die für ihn auch eine Chance enthält, wird die Charakterstudie zum Thriller, der den Leser bis zur letzten Seite an das Buch fesselt.

So ist „Das große Los“ eine beeindruckende Graphic Novel, die die Möglichkeiten eines Genrestoffes mit der einer tiefgründigen Personenstudie in urbaner Umgebung virtuos verbindet. Mitunter geht Joris Mertens allerdings etwas zu ausführlich auf die Gemütszustände seines Protagonisten ein, indem er jede Geste und jede Gefühlsregung in eher banalen Situationen aufzeichnet.

Wer auf den Geschmack gekommen ist: Im September erscheint ein weiteres Werk von Joris Mertens in deutscher Übersetzung beim Splitter Verlag. In seinem Comic-Debüt „Beatrice“ aus dem Jahr 2019 steht eine Frau im Mittelpunkt.

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