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Spätfranzösische Dekadenz. Eine Seite aus dem Band.

© Illustration: Heuet/Knesebeck

Comic-Literatur: Bis an die Grenzen der Zeit

Stéphane Heuets grafische Umsetzung von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ illustriert die Dekadenz der Jahrhundertwende und bietet sich als perfekte Lektürehilfe für den Erzählzyklus an - die Komplexität des Originals erreicht sie jedoch nicht.

An seinem siebenteiligen Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ arbeitete Marcel Proust – inklusive aller Vorbereitungen – fast zwanzig Jahre lang. Am Ende seines Hauptwerkes entließ er seinen gealterten Protagonisten mit der Erkenntnis, dass er ebendieses Werk schreiben müsse, um die Zeit in einem „Kunstwerk der Erinnerung“ zu konservieren – andernfalls wäre sie wirklich verloren.

Eine Welt im Verfall

Wahrscheinlich wird es wesentlich länger dauern, bis der französische Zeichner Stéphane Heuet seine Comic-Adaption des Klassikers abgeschlossen haben wird. Fasziniert von Prousts Werk, begann der ehemalige Art Director im Jahr 1998 mit der äußerst anspruchsvollen Aufgabe einer grafischen Umsetzung des „Recherche“-Zyklus. Auch wenn noch nicht ganz klar ist, wann welche der ausstehenden Bände zu Worten und Bildern verarbeitet, so darf sich das deutschsprachige Publikum bereits über den ersten Teil des ersten Bandes „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: Combray“ freuen.

In „Combray“ wird der Leser mit dem Ich-Erzähler Marcel bekannt gemacht, der sich als erwachsener Mann in Rückblenden an seine Kindheit in der Normandie erinnert. Seine Erinnerungen an die kleine Stadt Combray werden dominiert vom gesellschaftlichen Leben, dem Aufeinandertreffen von dekadentem Adel und aufstrebendem Großbürgertum – einer Welt, deren Verfall Proust in seinem Werk schonungslos aufzeigte.

Um seine „Suche nach der verlorenen Zeit“ dem Original anzupassen, verwendet Heuet textlastige Passagen, die durch die dargestellten Bildern teils ernsthaft, teils ironisch konnotiert werden. Wie der Roman, so vermittelt auch der Comic diese Sichtweise durch die teilweise naive Perspektive des jungen Marcel. Dazu stellt Heuet das Wissen des erwachsenen Marcel neben die Wahrnehmung seiner jungen Alter Egos.

Fin de siècle: Eine Szene aus dem ersten Band.
Fin de siècle: Eine Szene aus dem ersten Band.

© Illustration: Heuet/Knesebeck

In detailreicher Manier nutzt Heuet die von Hergé populär gemachte Zeichentechnik Ligne Claire, um die Welt des Fin de siècle wiederauferstehen zu lassen. Prousts Kritik an der Dekadenz lässt sich so grafisch einwandfrei umsetzten. Problematisch wird diese Technik nur, wenn Marcel zwischen den zeitlichen Erzählebenen hin- und herwechselt.

Die Grenzen der Ligne Claire

Während sich der Ich-Erzähler in der Madeleine-Passage beim Geschmack des in Tee getauchten Gebäcks unwillkürlich in seine Vergangenheit zurückversetzt fühlt, können die klaren Formen der Darstellung den Prozess des Erinnerns nicht ausreichend illuminieren. Zwar beschreiben die Bilder die Handlung der erzählten Gegenwart, doch bleibt es allein den Worten überlassen, in die Vergangenheit zu überführen. Diese zeichnen sich als Dialoge aus vergangener Zeit auf Marcels Gesicht ab. Allein Duftschwaden des Tees leiten grafisch zum nächsten Bild über, das bereits Combray aus Marcels Kindheit zeigt.

Zu kurz kommen bei der gewählten Darstellungsform die instabilen Erinnerungsbilder in Prousts Werk, die den Romanzyklus zu einer Theorie der Zeit und des Erzählens machen. Müsste doch eine Umsetzung der „Recherche“ die Bilder nicht nur inhaltlich, durch die Textpassagen, sondern auch erzählerisch auf der Bildebene selbst hinterfragen. Doch die Ligne Claire mit ihren klar definierten Formen eignet sich nicht sonderlich für diese Art der Selbstreflektion.

Heuets Comic gibt ein anschauliches Abbild der französischen Dekadenz der Jahrhundertwende und bietet sich als perfekte Lektürehilfe für den Proustschen Erzählzyklus an, doch zu einem „Kunstwerk der Erinnerung“ wird es nicht. Zum komplex ist Prousts fragmentarisches Werk, als das diese grafische Umsetzung die verlorene Zeit einfangen könnte.

Stéphane Heuet/Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: Combray, Knesebeck, 72 Seiten, 19,95 Euro. Leseprobe unter diesem Link. Der Knesebeck-Verlag plant halbjährlich die Veröffentlichung eines weiteren Bandes. Heuet hat bislang fünf Bände in  Originalsprache veröffentlicht, erschienen im Delcourt-Verlag.

Die Homepage unseres Autors Daniel Wüllner findet sich hier, zu seinem Blog geht es hier. 

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