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Comic-Roman: Raus aus der Kurve

Roman, Graphic Novel, Roman: Thomas von Steinaeckers „Geister“ löst Grenzen auf.

Und auf der halben Strecke des Buchs, es ist eine von der Pubertät ins sogenannte Erwachsenenleben holpernde Lebensversuchsstrecke, kommen die Bilder. Die Strips. Die Ute-Wochenstrips, gezeichnet von einer gewissen Cordula Maas. Die Klarheit. Die Sparsamkeit und enorme Wirksamkeit einer gestrichelten Geschichte. Die Versuchung, in einer anderen Welt zu verschwinden und sich, aber ja doch, neu zu erfinden.

Ute also, die Comic-Heldin, die per Post in Jürgens Physiotherapeutenfach im Wellness-Center in Prien am Chiemsee und in sein stehen gebliebenes Leben reinrutscht und es wieder anschubst wie ein angerostetes Kinderspielplatzkarussell, ist auf Kur. In Prien, selbstverständlich. Und der massige Masseur rechts im Bild, das ist ja der Jürgen Kämmerer selber, von dem die ganze Zeit schon die Rede war. Und die so präzis konturierten „Alpen am Horizont“, aber das steht erst ein Stückchen weiter hinten geschrieben, als die angeschubste graphic novel sich störrisch zurückverwandelt in den herausgeräusperten Roman, der sie war, diese Alpen – sind sie nicht „ein einziges großes Monument für eine schreckliche Schlacht ohne Sieger“?

Von einem zermürbenden Dauerscharmützel, einem mit Gespenstern noch dazu, erzählt dieser zweite Roman von Thomas von Steinaecker. Sieger gibt’s tatsächlich nicht, folglich auch keine Verlierer, nur Weitermacher zwischen banalstmöglicher Realität und der Verheißung einer Fiktion, die gleich wieder zerfließt. In die über den Rand auslaufende Tusche namens Leben, und schon hat man die Sauerei. Jürgen also hat Cordula kennengelernt, die ihn in ihren Ute-Strip hineingezeichnet hat, er ist mit ihr ins Bett gegangen am Ende einer ziemlich geilen Party in Berlin, und jetzt muss er sich schnell aus dem Staub machen mit seiner pubertierenden Tochter Clara, die das gar nicht verstehen kann, dass der Papa mit der Schlampe da. So wacht einer auf aus der Sucht, in die ihn fantastisch fantasieverwirrende Comics gestürzt haben, und steht plötzlich wieder rum in seinem Roman -Allerlei.

Die vertrackte Konstruktion, sie ist das Schönste an diesem herben Stück Text, dem die Bilder fast die Schau stehlen. Das anlauflos Verwickelte vor allem: Dass sich das nicht wegliest wie so vieles, sondern dass es einen gleich wieder raushaut aus der Kurve eine Seite weiter oder zwei. Und dass erst langsam irgendwas Fassbares entsteht, ein Fundament, ein Gebäude oder doch bloß ein aufgerissenes Dach. Denn in einer Art Gespensterdachboden hat sich, abseits von Clara und Cordula, unendlich viel früher ein anderer weiblicher Vorname eingenistet: Ulrike, die Phantomschwester – verschollen acht Jahre, bevor Jürgen geboren ist, vielleicht ermordet, von der Polizei gesucht und doch nie für tot erklärt. Nichts bleibt von ihr als eine irrlichternde Fotogalerie im Elterngeisterhaus: Töchterchen mit Teddybär.

Ulrike wird zum Trauma für alle, besonders aber für den irgendwie übrigen, nachgeborenen Jürgen. Er muss erst erwachsen werden, scheinbar entrinnen in eine Ehe und aus ihr wieder heraus, um sich dann doch zum Protagonisten einer Fernsehdokumentation machen zu lassen als der Bruder, der seine Schwester in Budapest sucht und findet und, eine Namensverwechslung bloß, gleich wieder verliert. Dafür begegnet er Cordula: Die Zeichnerin beginnt, inspiriert von diesem TV-Geschwisterwaisenschicksal, Ulrike als Ute weiterzuspinnen – und Jahre später tritt sie in Jürgens Scheidungskrüppelleben.

Schon in seinem Debüt „Wallner beginnt zu fliegen“ nahm der 1977 geborene Autor eine Familientragödie zum Anlass, beschädigte Überlebensbiografien ins Virtuelle hinüberzuperforieren; diesmal ist es der unerhört spielerisch betriebene Gattungswechsel, der den Figuren jeglichen Realitätsrest entzieht. Wenn einem das Dasein schon von Geistern verhext ist, warum dann nicht gleich selber zum Geist werden? Und das Glück suchen in der – gescribbelten – Zweidimensionalität, denn etwas Besseres als das Leben finden wir überall?

Vor dieses Interimsparadies aber hat der junge Romancier seltsam stacheldrahtbewehrte Tore gebaut. Das dröhnend dulle Durchschnittsleben des Physiotherapeuten Jürgen nebst langweiliger Internatsvergangenheit mit Pech bei den Frauen und so weiter: Das ist, sich kunstvoll suhlend in alltäglichster Sprache, sehr breit und oft absichtlich flach erzählt. Klar nervt das. Dieses Gestochere durch die Jahrzehnte, die sinnlosen kleinen Fluchten in den Schnellvorlauf, genauso öde wie die Zeitlupe, da kann man ja gleich auf Play drücken und erzählen wie Hinz und Kunz! Doch plötzlich fällt das verbrauchte Spielzeug namens Geschichte runter, und der Leser stürzt ins erste stehende Bild. Wow! So schön selbst dekonstruiert hat sich lange keiner mehr, der schreibt, ein Schemen nur, Wirtskörper unserer Fantasie.

Thomas von Steinaecker: Geister. Roman. Mit Comics von Daniela Kohl. FVA, Frankfurt/Main, 204 Seiten, 19, 80 €.

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