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Auf- und Abstieg: Eine Seite aus dem Sammelband.

© Reprodukt

„Der vergessene Garten“ von Émile Bravo: Gezeichnete Weckrufe

Die Kurzgeschichtensammlung „Der vergessene Garten“ zeigt den vor allem durch seine Kindercomics bekannten Franzosen Émile Bravo als bemerkenswert politischen Autor.

Der Sammelband „Der vergessene Garten“ von Émile Bravo ist eine Art Werkschau des französischen Star-Autors, der in Deutschland vor allem für seine Kinder- und Jugendcomics bekannt ist. Mehr als 20 Arbeiten aus gut 15 Jahren zeugen von einer bemerkenswerten Stil-, Farben- und Themenvielfalt. In seinen Ligne-claire-Zeichnungen, pastellfarbenen Illustrationen und schwarz-weißen Cartoons versetzt Bravo klassische Comic-Figuren in ein neues Umfeld, erzählt von den Missgeschicken eines Hobbykochs und analysiert die Machtstrukturen in der globalisierten Welt.

Auf diese bunte Mischung bezieht sich der vom französischen Verleger vorgeschlagene Titel. Es handle sich um „zusammengetragene Blätter aus einer Dekade Geschichten über alles und nichts“, so sagt Bravo selbst über die Garten-Metapher; deren gemeinsamer Nenner sei schlicht „Émile Bravo“.

„Mit meinen Comics möchte ich wachrütteln“

Vom deutschen Verleger Reprodukt wird die Zusammenstellung als „Comics für ein explizit erwachsenes Publikum“ angepriesen. Der Autor hingegen hält nichts von derlei Kategorien: Selbst ein komplexes Werk wie Art Spiegelmans „Maus“ könne aufgrund der universellen Codes des Mediums von Kindern wie Erwachsenen rezipiert werden, wenn auch auf unterschiedlichen Ebenen.

Aus seinem Buch hält er nur eine der Geschichten für Jungleser-untauglich, wie er im Gespräch sagt: „Young America“ heißt die in nostalgischen Grautönen gehaltene „Highschool-Romanze“, die in OuBaPo-Manier in zwei Versionen erzählt wird. Die Panels bleiben gleich, der Text ist ein anderer. Die scheinbare Fifties-Idylle, die in der ersten Fassung zelebriert wird und dem Leser aus vielen Filmen vertraut sein dürfte, wird in der zweiten Variante hemmungslos parodiert: Die noch immer adrett gekleideten jungen Leute könnten vulgärer und stumpfer nicht sein. Mit tiefschwarzem Humor zeichnet Bravo ein düsteres Portrait einer Gesellschaft, die ihr obsessives Verhältnis zu Gewalt und Sexualität hinter einer polierten Fassade versteckt.

Die wenigen eher anekdotisch-heiteren Geschichten über Köche oder Schiedsrichter wirken in dieser Nachbarschaft etwas deplatziert. Der vom Autor genannte gemeinsame Bezugspunkt „Émile Bravo“ ließe sich ohne sie außerdem durchaus konkreter beschreiben: Émile Bravo ist meist ein auteur engagé, ein politischer Autor, dessen selbst erklärtes Ziel es ist Kinder, wie Erwachsene nicht nur zu unterhalten, sondern auch „aufzuwecken“, wie er sagt: „Alle sind eingeschlafen. Wir haben ein kapitalistisches System, das die Menschen einschläfert, indem es Bürger zu Konsumenten macht, die nichts tun, außer arbeiten, schlafen, einkaufen. Mit meinen Comics möchte ich wachrütteln.“

Die Mehrzahl der Beiträge lässt sich unter dieser politischen Prämisse lesen: Bravo denunziert Alltagsrassismus, erklärt die Wirkungsweise von Indoktrination, illustriert wie Machtgewinn mit Idealverlust einhergeht und veranschaulicht den Domino-Effekt von Demütigungen. Er verzichtet auf den erhobenen Zeigefinger und setzt stattdessen auf verspielte oder makabre Überzeichnung.

Aufwachen! Das Buchcover.
Aufwachen! Das Buchcover.

© Reprodukt

Hervorzuheben ist dabei sein effizienter Einsatz von Piktogrammen, die oft an Stelle von Wörtern die Sprechblasen füllen, wie in der Erzählung über Auf- und Abstieg eines Jungpolitikers. Zum einen symbolisieren sie das repetitive und plakative Moment von Metaphern, die in politischen Reden inflationär eingesetzt und dadurch sinnentleert werden. Zum anderen zeigen sie, wie universell die Bildsprache ist, die auf diesen zu Floskeln erstarrt en Metaphern basiert: Die Zeichnung des Hais als Finanzhai und damit als Symbol kapitalistischer Gier identifiziert man auch außerhalb Frankreichs problemlos. Zum dritten– und dieser Aspekt liegt Bravo besonders am Herzen – lassen sie dem Leser noch mehr Freiraum: Die Symbole in den Sprechblasen geben einen Hinweis auf den Inhalt der Bemerkung, ausmalen muss sich der Leser die Dialoge aber selbst. Eines steht fest: Die aktive Einbindung des Lesers dürfte für dessen „Wach-Rüttelung“ durchaus förderlich sein.

Marie Schröer

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